Ostthüringer Zeitung (Schmölln)
Die Rekruten werden handverlesen – das findet auch Verteidigungsminister Boris Pistorius gut
Klinge wird damit einer von rund 8000 jungen Männern und Frauen aus seinem Jahrgang sein, die eingezogen werden. Eine sorgfältig getroffene Auswahl, angepasst an die Bedürfnisse von Armee, Luftwaffe und Marine. Es ist ein Modell, das auch in Deutschland Fans hat. Der prominenteste: Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). Der macht keinen Hehl daraus, dass er für seinen angekündigten Vorschlag für eine Wiedereinsetzung der Wehrpflicht vor allem nach Norden schaut. Auch die CDU sprach sich auf ihrem Parteitag für eine Rückkehr zur Wehrpflicht unter diesen Vorzeichen aus.
Das schwedische Modell hat drei Stufen: Zunächst werden alle rund 100.000 jungen Männer und Frauen, die in einem Jahr 18 werden, angeschrieben. Sie sollen einen Fragebogen ausfüllen und Angaben machen über ihre Gesundheit, Persönlichkeit, Schulkarriere, mögliche Straftaten und ihr Interesse am Militärdienst. Gut ein Drittel von ihnen wird dann eingeladen zur Musterung. Der Prozess dauert den ganzen Tag: Wer bei den Logik- und Sprachtests am Morgen nicht durchfällt, den erwarten Ausdauer- und Kraftübungen, Gesundheitsuntersuchungen und ein einstündiges Interview mit einem Psychologen oder einer Psychologin. Etwa 30 Prozent derjenigen, die gemustert werden, sind Frauen, sagt Marinette Nyh Radebo, Sprecherin der Musterungsbehörde. Unter denen, die tatsächlich eingezogen werden, ist es noch ein Fünftel.
Ob sie eingezogen werden, wissen die Teenager am Ende des Tages: Bei einem finalen Gespräch mit einem Einstellungsoffizier erfahren sie, wie sie abgeschnitten haben bei den
Tests und ob und wo die schwedischen Streitkräfte sie einsetzen werden. 9 bis 13 Monate dauert der Dienst, abhängig davon, welche Aufgabe die Wehrpflichtigen erfüllen sollen. Die Wehrpflicht ist in Schweden Teil der gesetzlich festgeschriebenen „Totalverteidigung“des Landes, die auch zivile Dienstpflichten umfasst.
8000 junge Menschen rekrutiert das Königreich auf diese Art derzeit. Und es sollen mehr werden: Weil auch Schweden wegen des Kriegs in der Ukraine von einer erhöhten Bedrohungslage ausgeht, soll die Zahl der Wehrdienstleistenden nach den Plänen des Verteidigungsausschusses bis 2032 auf 12.000 pro Jahr steigen, sogar eine Erhöhung auf 14.000 bis 2035 ist im Gespräch.
Für die Musterungsbehörde bedeutet das deutlich mehr Arbeit. Aktuell
gebe es landesweit drei Einrichtungen für die Musterung, sagt Nyh Radebo. „Wir sind auf der Suche nach einer vierten. Es gibt einen großen Zeitdruck, das rechtzeitig auf die Beine zu stellen.“
Das System ist noch nicht alt. Eine allgemeine Wehrpflicht für alle jungen Männer gab es bis 2009, als das Gesetz gleichzeitig auf Frauen erweitert und deaktiviert, also ausgesetzt, wurde. Zwischen 2010 und 2017 rekrutierten die Streitkräfte ausschließlich Freiwillige. Doch von denen gab es nicht genügend. Auch vor dem Hintergrund des Überfalls auf die Krim, sagt Nyh Radebo, sei man deshalb ab 2018 wieder zu einer Wehrpflicht zurückgekehrt: „Die Einstellung gegenüber der Landesverteidigung hat sich ab 2014, 2015 gedreht.“
Nyh Radebo führt geübt durch das
Testzentrum der Behörde in Stockholm. Hier der Computerraum für die kognitiven Tests, hier die Fahrradtrainer für den Belastungstest, dort eine Liege, wenn danach mal ein Rekrut umkippt. Aus Deutschland, aber auch den Niederlanden war das Interesse zuletzt groß.
Einfach übertragen lässt das Modell sich nicht. Wegen der deutlich größeren Bevölkerung in Deutschland müssten vergleichbare Strukturen für höhere Zahlen ausgelegt sein. In Klinges Jahrgang 2006 wurden in Deutschland etwa 670.000 Menschen geboren. Um auch Frauen einziehen zu können, wäre außerdem eine Änderung des Grundgesetzes nötig, das in Artikel 12a bisher nur für Männer einen Pflichtdienst vorsieht. Und dann ist da noch die Frage nach der Wehrgerechtigkeit – dass nicht alle Teile eines Jahrgangs zu einem Dienst verpflichtet wurden, beschäftigte die Gerichte vor der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 immer wieder.
Ob er auch ohne Pflicht zum Militär gegangen wäre? „Ich weiß es nicht“, sagt Klinge. Dass er absehbar Uniform tragen muss, während die meisten seiner Altersgenossen studieren, reisen oder arbeiten können, stört ihn aber nicht. Den Musterungstag habe er angetreten mit dem Ziel, auch ausgewählt zu werden. „Wenn es zum Krieg kommt, muss sowieso jeder etwas tun“, sagt er. „Dann bin ich lieber vorbereitet.“Was nach dem Wehrdienst kommen soll, weiß Gabriel Klinge noch nicht. Auch deshalb, sagt er, ist er gespannt auf den Wehrdienst. Vielleicht sei die Armee ja eine Option für eine Karriere.