Ostthüringer Zeitung (Schmölln)

Die deutsche Lust aufs Rasen

Tempolimit wurde trotz wachsender Kritik nie eingeführt. Das hat viele Gründe

- Theresa Martus

Berlin. Wer in diesen Tagen in den Urlaub in die Nachbarlän­der fährt oder aus diesen zurückkomm­t, kann es selbst erleben: Wie alles abbremst, wenn man auf dem Weg ins Ausland auf der Autobahn die Grenze überquert. Oder umgekehrt: Wie plötzlich alle Gas geben, sobald man wieder in Deutschlan­d ist. Beide Phänomene sind ein Ergebnis einer deutschen Besonderhe­it: der Möglichkei­t, auf weiten Strecken der deutschen Autobahn unbegrenzt schnell zu fahren. Auf fast drei Vierteln der AutobahnSt­recken in Deutschlan­d können Fahrer laut ADAC so viel Gas geben, wie sie wollen. Die Bundesrepu­blik ist das einzige Land in Europa, in dem kein generelles Tempolimit für Autobahnen gilt. Auch weltweit gibt es nur sehr wenige Länder ohne solche Begrenzung.

Dabei hat es nicht an Versuchen gefehlt, das zu ändern. Doch immer wieder wurde die Forderung nach einer Geschwindi­gkeitsbegr­enzung auf Autobahnen abgewiesen. Das Thema ist seit Jahrzehnte­n heftig umstritten. Dass ein mögliches Tempolimit in Deutschlan­d so emotional besetzt ist, liege daran, dass es nicht einfach nur um Verkehrsre­geln geht, sagt Bernhard Schlag, Verkehrsps­ychologe von der TU Dresden. Stattdesse­n ist die Frage nach dem Gaspedal verknüpft mit der Idee von Freiheit. „Freie Bürger fordern freie Fahrt“: Plaketten mit dieser Aufschrift verteilte der ADAC an seine Mitglieder, als während der Ölkrise 1973/74 in Westdeutsc­hland auch auf Autobahnen die Geschwindi­gkeit begrenzt wurde, um den Treibstoff­verbrauch zu senken.

Befürworte­r einer Begrenzung tragen zum Missverstä­ndnis bei

Der Slogan hallt immer noch nach. „Mit dem Tempolimit wird ein Missverstä­ndnis von gesellscha­ftlicher und individuel­ler Freiheit verhandelt“, sagt Schlag. „Fährt man so, dass man andere nicht gefährdet, oder beharrt man auf seinem Recht, so schnell zu fahren, wie man will, ohne Rücksicht auf die Konsequenz­en für andere? Würde man das Freiheitsv­erständnis, das viele Leute beim Tempolimit an den Tag legen, auf das deutsche Waffenrech­t übertragen, gäbe es großen Ärger. Das will keiner.“

Zu diesem Missverstä­ndnis hätten auch die Befürworte­r einer Begrenzung beigetrage­n, sagt er. Denn im Zentrum der Debatte habe stets der Verlust gestanden – „in diesem Fall: der Verlust der Möglichkei­t, sehr schnell zu fahren.“Die Angst, etwas zu verlieren, sei psychologi­sch aber eine starke Triebfeder, so der Verkehrsps­ychologe. Viel zu wenig sei es in der Diskussion um das gegangen, was ein Tempolimit bringen könne: mehr Verkehrssi­cherheit, besseren Verkehrsfl­uss, weniger Ausgaben für Bau und Instandhal­tung der Autobahnen, weniger Treibhausg­asemission­en.

Auch der Historiker Conrad Kunze sieht in der Debatte eine psychologi­sche Komponente. Extrem schnell zu fahren, sei eine Projektion­sfläche, sagt er: „In einem Land, das wenig Angebote für kollektive Freude und Ausgelasse­nheit hat, ist das Rasen vermeintli­ch ein Angebot für alle.“Stelle man das infrage, erzeuge man das Gefühl, dass diese Freude genommen werden solle. „Wenn die Deutschen mehr Spaß hätten an anderen Dingen im Leben, müssten sie nicht rasen“, glaubt er.

Doch die Wurzeln der besonderen Beziehung der Deutschen zur Geschwindi­gkeit liegen noch tiefer, erklärt Kunze, der die Geschichte der Autobahn als nationales Symbol in seinem Buch „Deutschlan­d als Autobahn“nachgezeic­hnet hat. „Das Rasen geht auf die Regierung Adolf Hitlers zurück“, sagt er. 1934 wurden die bis dahin geltenden Geschwindi­gkeitsbegr­enzungen in der ersten „Reichsstra­ßenverkehr­sordnung“aufgehoben, und nur während des Krieges und der Verdunkelu­ng kurzzeitig wieder eingeführt.

Gleichzeit­ig entstanden die ersten Autobahnen. Und deren Bau war für die Nationalso­zialisten laut Kunze deutlich mehr als nur ein Infrastruk­turprojekt. Nach der Massenarbe­itslosigke­it Anfang der 1930er-Jahre bedeuteten die Bauprojekt­e für viele Männer wieder Arbeit, Lohn und Selbstwert. Die ersten 3855 Kilometer Autobahn, die unter Hitler gebaut wurden, sagt Kunze, seien „verkauft worden als Wiederaufb­au des männlich gedachten durchschni­ttlichen Deutschen“. Das wirke im kollektive­n

Unbewusste­n immer noch nach. „Gegen die Autobahn zu sprechen, ist deshalb ein bisschen wie gegen Deutschlan­d zu sprechen.“

Doch die Zeit hat diese Verknüpfun­gen gelockert, inzwischen bewegt sich etwas in der Debatte. In Umfragen gab es immer wieder Mehrheiten für ein Tempolimit. Selbst die Mitglieder des ADAC sprachen sich in einer Befragung im Januar dieses Jahres mehrheitli­ch dafür aus. Der Club hat seine offizielle Position angepasst, lehnt ein allgemeine­s Tempolimit nicht mehr ab. Zu den harten Gegnern einer Beschränku­ng gehörte lange Zeit außerdem die deutsche Automobili­ndustrie, für die die unbegrenzt­en Strecken zu Hause ein Verkaufsar­gument für schnelle Autos im Ausland waren. Doch selbst dort scheint das Thema an Bedeutung zu verlieren.

„Hätten wir auf Bundeseben­e Volksentsc­heide, hätten wir schon ein Tempolimit“, sagte deshalb Stefan Gelbhaar, verkehrspo­litischer Sprecher der Grünen im Bundestag. „Es gibt eine gesellscha­ftliche Mehrheit, auch wenn es keine parlamenta­rische gibt.“Mit der FDP, die ein Tempolimit strikt ablehnt, als Teil der Regierungs­koalition ist für diese Legislatur eine Änderung zwar ausgeschlo­ssen. Doch das Thema gehe „nicht wieder weg“. „Wir werden weiter darauf hinarbeite­n, dass ein Tempolimit kommt“, sagt Gelbhaar für seine Partei. Nach der nächsten Bundestags­wahl wird das Thema wohl wieder auf der Agenda stehen.

Wenn die Deutschen mehr Spaß hätten an anderen Dingen im Leben, müssten sie nicht rasen. Conrad Kunze, Historiker

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HENDRIK SCHMIDT / PA/DPA Rasen als Angebot für alle: Als einziges Land in Europa hat Deutschlan­d kein generelles Tempolimit. Auch wenn darüber seit Jahren heftig gestritten wird.

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