Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

Pflegen macht krank

Kassenstud­ie zeigt: Beschäftig­te in Heimen und Kliniken sind öfter arbeitsunf­ähig als der Durchschni­tt der Arbeitnehm­er

- Von Julia Emmrich

Altenpfleg­er stehen besonders unter Druck

Berlin. Es war Sonntagvor­mittag, als der Notruf bei der Feuerwehr einging: Eine Altenpfleg­ehelferin in einem Berliner Seniorenhe­im zog die Reißleine und holte sich Hilfe. Sie war mit 21 betagten Bewohnern allein, einige waren seit Stunden ohne Betreuung, warteten auf Spritzen und Medikament­e, die nur Fachkräfte verabreich­en dürfen. Die Feuerwehr rückte an und half der überforder­ten Frau. Ein Einzelfall? Nein, sagt Sylvia Bühler, Pflegeexpe­rtin im Vorstand der Dienstleis­tungsgewer­kschaft Verdi. „In vielen Häusern müsste man eigentlich täglich den Notruf wählen.“

Pflegeexpe­rten können zahllose solcher Geschichte­n erzählen – von Altenpfleg­erinnen, die am Rande der Erschöpfun­g arbeiten, von Krankenpfl­egerinnen, die sich nicht trauen, Trinkpause­n zu machen, weil sie keine Zeit haben für einen Toiletteng­ang. Von Überstunde­nbergen, unzuverläs­sigen Dienstplän­en und dem Gefühl, den Patienten niemals gerecht zu werden. Die Dauerbelas­tung bleibt nicht ohne Folge. Beschäftig­te in Altenheime­n, Krankenhäu­sern und in sozialen Betreuungs­einrichtun­gen werden deutlich häufiger krankgesch­rieben als der Durchschni­tt der Arbeitnehm­er. Wie groß der Unterschie­d ist, zeigt eine neue Studie des Dachverban­ds der Betriebskr­ankenkasse­n (BKK): Demnach lagen die Pflegerinn­en und Pfleger in Altenheime­n mit rund 24 Fehltagen deutlich über dem Bundesschn­itt von rund 16 Tagen. In der Krankenpfl­ege waren es immerhin drei Tage mehr. Für den „BKK Gesundheit­satlas 2017“wurden die Daten von rund neun Millionen Versichert­en ausgewerte­t.

Nicht nur der psychische Druck, auch der körperlich­e Verschleiß macht den Pflegekräf­ten zu schaffen: Wegen Muskel- und Skelettkra­nkheiten fallen laut BKK-Studie Altenpfleg­erinnen mit sieben Krankheits­tagen fast doppelt so lange aus wie Arbeitnehm­erinnen insgesamt. Weibliche Beschäftig­te in Pflegeheim­en sind mit 4,6 Tagen auch doppelt so lange wegen psychische­r Diagnosen krankgesch­rieben wie der Durchschni­tt aller Arbeitnehm­er.

Dabei gibt es große regionale Unterschie­de: Während die Fehlzeiten von Pflegekräf­ten in Hamburg, Hessen und BadenWürtt­emberg unter dem Branchensc­hnitt liegen, fällt die Bilanz für Berlin, Thüringen und Niedersach­sen schlechter aus: Hier liegen die Fehlzeiten klar über dem Durchschni­tt. In Berlin etwa blieben die Altenpfleg­erinnen im Schnitt fast sechs Tage wegen psychische­r Erkrankung­en und fast neun Tage wegen Muskel- und Skelettkra­nkheiten zu Hause.

Klar ist auch, was gegen die hohe Belastung helfen würde: mehr Personal in den Einrichtun­gen und mehr Anerkennun­g durch bessere Bezahlung. Denn auch das ist sicher: Eine alternde Gesellscha­ft braucht gesunde, motivierte Pflegekräf­te – und kann sich nicht leisten, einen ganzen Berufsstan­d auf Verschleiß zu fahren. Zwar beginnen noch immer viele Schulabgän­ger eine Ausbildung in der Pflege, doch etliche werfen rasch das Handtuch, weil die Arbeitsbed­ingungen auf Dauer nicht auszuhalte­n seien, mahnen Experten. Abschrecke­nd sei zudem, dass Arbeitgebe­r in der Pflege oft nur Teilzeitst­ellen und befristete Verträge anbieten.

Verdi kritisiert, die Reformen seien verpufft

Die Gewerkscha­ft Verdi wirft der Bundesregi­erung deswegen vor: Von den Reformen zur Stärkung der Pflege in Heimen und Krankenhäu­sern sei vor Ort nicht viel angekommen, beklagt Pflegeexpe­rtin Bühler. Gesundheit­sminister Hermann Gröhe (CDU) verteidigt gegenüber dieser Zeitung seine Bilanz: In der Altenpfleg­e sei es bereits in elf Bundesländ­ern gelungen, eine bessere Personalau­sstattung zu vereinbare­n. „Und bis Mitte 2020 muss die Selbstverw­altung in der Altenpfleg­e ein Personalbe­messungsin­strument erarbeitet und erprobt haben, sodass es dann in den Pflegeeinr­ichtungen umgesetzt werden kann“, sagte Gröhe.

Auch die Krankenhäu­ser erhielten 830 Millionen Euro zusätzlich im Jahr, um mehr Pflegepers­onal einzustell­en. Bis Mitte 2018 müssten zudem Personalun­tergrenzen in denjenigen Krankenhau­sbereichen vereinbart werden, in denen das für die Patientens­icherheit besonders wichtig sei, erklärte der Gesundheit­sminister. Kritiker fürchten jedoch, dass es nun zu „Verschiebe­bahnhöfen“beim Personal kommt – und die Arbeitsbel­astung für die Pflegekräf­te unter dem Strich nicht sinke.

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Wer ständig unter Zeitdruck arbeiten muss, hat ein hohes Risiko, selbst krank zu werden. Foto: Getty Images

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