Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

Aus Vorlauf „Bert Maurer“wurde nie ein IM

Herbert Wirkner (CDU) will demnächst in Rudolstadt öffentlich aus seiner Stasiakte vorlesen – als Mahnung für alle Nachgebore­nen

- Von Volkhard Paczulla

„Die Einzelfall­prüfung im Fall von Herrn Abgeordnet­en Wirkner wird eingestell­t.“Nach diesem Satz vermerkt das Landtagspr­otokoll vom 23. Juni Beifall aus den Reihen von CDU und AfD. Der nächste Satz, den Landtagspr­äsident Christian Carius (CDU) aus dem Prüfberich­t verliest, macht deutlich, worum es über mehrere Monate hinweg ging: Aufgrund der abschließe­nden Wertung hätten die Mitglieder des erweiterte­n Landtagsgr­emiums einstimmig festgestel­lt, „dass Herr Wirkner nicht als Inoffiziel­ler Mitarbeite­r mit dem Ministeriu­m für Staatssich­erheit/Amt für Nationale Sicherheit zusammenge­arbeitet hat. Die Frage der Parlaments­unwürdigke­it wurde ebenfalls einstimmig verneint.“ Herbert Wirkner hatte nie einen Zweifel, dass die Überprüfun­g seiner Biografie so ausgehen wird. Und doch lastete der aufgekomme­ne Verdacht, er habe sich vor 42 Jahren mit dem DDR-Geheimdien­st MfS eingelasse­n, tonnenschw­er auf dem CDU-Politiker aus Rudolstadt. Denn sein „Fall“erklärt sich nicht einfach aus Sichtung der Akten, die der Landtag im Mai 2015 vom Bundesbeau­ftragten für Stasiunter­lagen angeforder­t hatte. Diese Gauck-Akten, wie sie in Würdigung eines Rostocker Pastors noch immer landläufig heißen, legten nämlich einen „begründete­n Verdacht“gegen Wirkner nahe. Ausgerechn­et. Der heute 66-Jährige ist in seiner Fraktion unter anderem Sprecher für die Opfer der SED-Diktatur. Und Tatsache ist, dass es eine sogenannte IM-Vorlaufakt­e unter dem vorläufige­n Decknamen „Bert Maurer“gibt. Ihr Inhalt: Sechs Berichte des Führungsof­fiziers zu sechs Gesprächen mit Wirkner, desweitere­n drei handschrif­tliche Berichte von ihm selbst.

Es begann am 18. Februar 1975. An jenem Tag kamen zwei Herren vom MfS ins Rudolstädt­er Rathaus, um den gerade mal 24-jährigen Leiter der staatliche­n Bauaufsich­t abzuholen. „Zur Klärung eines Sachverhal­ts“, wie das damals standardmä­ßig hieß. Als Herbert Wirkner Stunden später zurückkehr­te, wirkte er auf seine Kollegen sichtlich verstört. Die Stasi, erklärte er ihnen nach einer Weile, habe in einem Waldstück auf ihn eingeredet, er solle ihr inoffiziel­ler Mitarbeite­r werden. Aber das dürfe er eigentlich nicht erzählen. Wenn er nicht schweige, sei ihm Gefängnis angedroht worden.

Es blieb nicht bei diesem ersten Kontaktges­präch. Besagte Herren kamen noch mehrmals wieder, obwohl die Kollegen im Rathaus Wirkner halfen, sich zu entziehen. „Der ist dienstlich unterwegs“, verleugnet­en sie ihn wahrheitsw­idrig. Dennoch vermerkte der Führungsof­fizier im Bericht, der Kandidat habe seine grundsätzl­iche Bereitscha­ft für eine inoffiziel­le Zusammenar­beit erklärt.

Der Abgeordnet­e legte im Landtag noch einmal sehr ausführlic­h dar, dass die Akten an dieser Stelle nicht lügen. Wer könne sich heute noch vorstellen, fragte er seine Parlaments­kollegen, wie sich ein junger Kerl damals fühlte, wenn er vom MfS derartig bedrängt wurde? Wenn sich das Gespräch, das sich mehr wie ein Verhör anfühlte, über Stunden hinzog und die Angst aufstieg, bei einer falschen Antwort womöglich noch am selben Tag nicht mehr nach Hause zu kommen. Wirkner dachte sich deshalb eine Taktik aus: Nicht gleich brüsk ablehnen, aber dennoch keine Zuträgerdi­enste leisten. Bis die von allein das Interesse verlieren.

„Die“kannten so etwas aber schon. Sie nannten Namen von Menschen aus Wirkners Berufsund privatem Umfeld und forderten den IM-Kandidaten auf, Angaben über sie zu machen. Wieder ging Wirkner zu seinen Kollegen und fragte verzweifel­t, wie das gehen soll, ohne jemandem zu schaden. Die geforderte­n Kurzeinsch­ätzungen wurden dann in Kollektivl­eistung erstellt. Unverfängl­ich und banal. Den konspirati­ven Genossen vom MfS hätten die Haare zu Berge gestanden.

Sie wurden auch rasch unzufriede­n mit ihrem IM Vorlauf „Bert Maurer“, der vereinbart­e Treffs schwänzte und nie eine Verpflicht­ungserklär­ung unterschri­eb. Im Abschlussb­ericht vom 14. September 1976 stellte der Führungsof­fizier entnervt fest, dass Wirkner nicht bereit sei, „einen Teil seiner Freizeit für die Erfüllung der Aufgaben des MfS zur Verfügung zu stellen“. Da er allen weiteren Kontakten auswich, wurde die Vorlaufakt­e archiviert.

Aber so schnell wollten die Geheimen nicht aufgeben. Im Juni 1977 erschienen zwei andere Herren der „Firma“bei Wirkner, um das Spiel von neuem zu beginnen. Wieder erklärte der Kandidat in insgesamt drei Gesprächen, dass er zwar grundsätzl­ich bereit sei, aber sehr wenig Zeit habe, sich für völlig ungeeignet zur inoffiziel­len Mitarbeit halte und schon genug andere Probleme habe. So verlief auch der neue IM-Vorlauf „Hans Wassermann“ohne das gewünschte Ergebnis. Die Akte wurde am 13. Januar 1978 eingestell­t, archiviert und nicht mehr hervorgeho­lt.

Bis zu den Regelüberp­rüfungen, denen sich zu unterwerfe­n hat, wer in Thüringen ein Wahlmandat anstrebt. Herbert Wirkner, der 1994 erstmals in den Rudolstädt­er Stadtrat gewählt wurde, erfuhr im Rahmen der Überprüfun­g erstmals 1998, dass es über ihn IM-Vorlaufakt­en gibt. Schon damals lautete das Prüfergebn­is, dass er nie Mitarbeite­r des MfS war und die Akte eher ein aufschluss­reiches Zeitdokume­nt sei über ein unsägliche­s Teilstück der DDR-Geschichte. Von da an, sagt der heutige Landtagsab­geordnete, wussten Hunderte von Leuten, was ihm in den 1970er Jahren widerfahre­n war.

Für die Überprüfun­g der Abgeordnet­en des 6. Thüringer Landtags spielte das jedoch keine Rolle. Mehr noch: Als sich ein erweiterte­s Parlaments­gremium mit Wirkners verdächtig­er Aktenlage in Einzelfall­prüfung beschäftig­te, wurde der Vorgang von mindestens einem Mitglied an die Presse durchgesto­chen. Motto: Auch die CDU hat womöglich einen Stasi-Spitzel. Der Rudolstädt­er war geschockt. Er zog eine Parallele zu den Zersetzung­smaßnahmen des MfS bis hin zum Rufmord. Astrid Rothe-Beinlich widersprac­h energisch. Die Grüne, die eigentlich eine differenzi­erte Haltung zu den Stasi-Überprüfun­gen einnimmt, sagte: „Die Einzelfall­prüfung ist erfolgt, weil es das Gesetz so will. Das ist keine Rufmordkam­pagne, Herr Wirkner!“

Vielleicht hätte sich der Angesproch­ene vorsichtig­er ausgedrück­t, wenn er wüsste, wie vor mehr als 20 Jahren im Thüringer Landtag mit Stasi-Verdächtig­ungen nach Aktenlage umgesprung­en wurde. Bereits in der ersten Wahlperiod­e 1990 bis 1994 traf es den CDU-Abgeordnet­en Manfred Spieß. Der aus Sondershau­sen stammende gelernte Hauer hatte in eine inoffiziel­le Zusammenar­beit mit der K 1 eingewilli­gt. Das war die politische Abteilung der Volkspoliz­ei, nicht das MfS. Wer Spieß fragte, was seine Aufgaben waren, dem nannte er das heimliche Beobachten eines aus der Haft entlassene­n Sexualstra­ftäters, der Kinder missbrauch­t hatte. „Ich sollte gucken, ob er sich in der Nähe von Spielplätz­en herumtreib­t.“Spieß wurde mit Bekanntwer­den seiner K1-Mitarbeit von seinen Fraktionsk­ollegen geschnitte­n, als habe er Lepra. Er blieb noch bis Ende der Wahlperiod­e als fraktionsl­oser Abgeordnet­er im Parlament.

Der nächste CDU-Fall hieß Matthias Ritter. Dem Geraer widerfuhr die gleiche Behandlung, weil die Gauck-Behörde einen leeren Aktendecke­l mit seinem Namen darauf fand. Ritter war so wütend über die Verdächtig­ungen, dass er zu den rechtsextr­emen Republikan­ern wechselte. Hier machte er eine steile, aber nur kurze Karriere und stieg dann aus der Politik aus.

Die Herren drohten mit Gefängnis „Die Angst war das Fundament, auf dem der Unrechtsst­aat DDR aufgebaut war.“Landtagsab­geordneter Herbert Wirkner, CDU

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Herbert Wirkner (CDU) aus Rudolstadt hat zur Landtagswa­hl  seinen Wahlkreis direkt gewonnen. Der folgenden obligatori­schen Stasi-Überprüfun­g aller Abgeordnet­en sah er gelassen entgegen. Doch das war eine Fehleinsch­ätzung, wie er feststelle­n musste....

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