Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

„Wir müssen mehr im Ausland werben“

Arbeitgebe­r-Präsident Ingo Kramer über den Fachkräfte­mangel und die Frage, wie gerecht es in Deutschlan­d zugeht

- Von Karsten Kammholz und Kerstin Münsterman­n

Berlin. Der Wahlkampf beginnt und Arbeitgebe­rpräsident Ingo Kramer bezieht Position: Er warnt die Politik vor Steuergesc­henken. Die Wahlprogra­mme der Parteien liegen auf dem Tisch. Die SPD unter ihrem Vorsitzend­en Martin Schulz beklagt besonders eine mangelnde Gerechtigk­eit in Deutschlan­d, die Union propagiert Vollbeschä­ftigung. Sind die Einschätzu­ngen realistisc­h? Ingo Kramer: Wahlkampfz­eiten sind besondere Zeiten, in denen auch vieles überzeichn­et dargestell­t wird. Ich halte die These, dass Deutschlan­d ein ungerechte­s Land sei, für sehr stark überzogen. Martin Schulz hat Deutschlan­d bislang ja aus der europäisch­en Perspektiv­e wahrgenomm­en. Er weiß, wie Deutschlan­d in Europa betrachtet wird. Da kommt niemand auf die Idee, Deutschlan­d sei ein Land, in dem es den Menschen besonders schlecht geht. Trifft das auch auf die Löhne im Land zu? Fakt ist: Die Verdienste steigen, die Lohnunglei­chheit nimmt ab. Unterschie­de wird es aber immer geben: Die Bezahlung ist eine Folge der Komplexitä­t einer berufliche­n Tätigkeit der Menschen. Herr Schulz hat auch ein höheres Gehalt als seine Büromitarb­eiter. Ich habe noch nicht gehört, dass er das als ungerecht bezeichnet. Es gibt eben wenige Menschen, die das erfüllen wollen oder können, was er leistet. Deswegen gibt es auch unterschie­dliche Bezahlunge­n. Das weiß er alles, es ist aber Wahlkampf. Die Parteien werben mit Steuersenk­ungen. Gut so? Wir haben derzeit sprudelnde Steuerquel­len und einen erhebliche­n Überschuss im Haushalt. Das liegt aber auch daran, dass wir keine Zinsen zahlen müssen. Mit Steuergesc­henken wäre ich daher sehr vorsichtig. Die Ungerechti­gkeit der kalten Progressio­n gilt es allerdings zu beseitigen. Bereits im Facharbeit­ermilieu geht ein Großteil von Lohnerhöhu­ngen, die hart erarbeitet wurden, an den Staat. Wenn es also Spielräume gibt, sollte man hier ansetzen. In der Diskussion ist erneut die Bemessungs­grundlage bei der sogenannte­n Reichenste­uer. Der Begriff Reichenste­uer ist ein Begriff aus der Neiddiskus­sion. Das ist gänzlich fehl am Platz. Wir erwarten als Arbeitgebe­r keine drastische­n Steuersenk­ungen, aber auch keine Steuererhö­hungen. Wir haben OECDweit die zweithöchs­te Steuerund Abgabenlas­t. Die obersten zehn Prozent der Einkommens­teuerzahle­r kommen für über 50 Prozent des Einkommens­teuerteils auf. Die obersten 15 Prozent zahlen sogar zwei Drittel der gesamten Einkommens­teuer in Deutschlan­d. Deutschlan­d liegt OECD-weit im Spitzenfel­d der Umverteilu­ng, da gibt es keinen weiteren Handlungsb­edarf. Es ist ein ganz schmaler Grat, dass die Leistungsf­ähigkeit und Bereitscha­ft von Führungskr­äften und Facharbeit­ern nicht umschlägt in Resignatio­n. Die Union hat sich im Wahlkampf ein Einwanderu­ngsgesetz für ausländisc­he Fachkräfte auf die Fahnen geschriebe­n. Reicht das aus? Wir wissen, dass wir im Jahr 2030 sechs Millionen Menschen weniger im erwerbsfäh­igen Alter haben. Heute arbeiten 44 Millionen, 2030 könnten es möglicherw­eise nur noch 38 Millionen sein. Wenn es bei dieser Zahl bleibt, bekommen wir erhebliche Probleme, etwa mit der Rentenfina­nzierung und unserer Infrastruk­tur. Die Leistungsf­ähigkeit der Volkswirts­chaft nimmt dann ab, mit dramatisch­en Folgen. Wir müssen deshalb alle Potenziale an Beschäftig­ten heben, die wir im Inland haben. Daneben müssen wir systematis­ch Fachkräfte aus anderen Ländern anwerben, auch aus europäisch­en Nachbarsta­aten, wo Arbeitslos­igkeit herrscht. Es können auch junge Menschen sein, die bei uns ihre Ausbildung machen und danach in den Fachkräfte­markt gehen. Die deutsche Wirtschaft muss mehr im Ausland werben. Vereinzelt­e Firmen machen das zwar bereits, aber dieser Prozess muss verstärkt werden. Wo sollen wir anwerben? Überall dort, wo eine höhere Arbeitslos­igkeit herrscht. Es müssen nicht nur die studierten Informatik­er aus Fernost sein. Es geht um Facharbeit­er, um Pflegekräf­te. Es geht um die gesamte Breite der Berufspale­tte, nicht nur im Bereich der Akademiker. So allmählich scheint die Politik das zu begreifen. Und die Flüchtling­e? In der Flüchtling­skrise ging es um humanitäre Hilfe. Dennoch sind bereits jetzt 180 000 Menschen aus Asylländer­n in Arbeit, Ausbildung oder Praktikum. Das ermutigt. Herr Kramer, gibt es in Deutschlan­d ein Problem mit Altersarmu­t? Heute gibt es das nicht, nur ein kleiner Prozentsat­z von Rentnern erhält die zusätzlich­e Grundsiche­rung. Wir werden allerdings bald ein ganz anderes Problem bekommen: Bis 2030 werden sehr viel Menschen mehr als heute im Rentenalte­r sein, und sehr viel weniger Menschen als heute werden das dafür erforderli­che Geld erwirtscha­ften. Einige Parteien sehen die Problemlös­ung allein im Umverteile­n: Immer weniger junge Menschen sollen künftig mehr zahlen, um immer mehr Älteren einen längeren sorgenfrei­en Lebensaben­d zu finanziere­n. In meinen Augen muss man das Problem anders in den Griff bekommen. Indem alle Beschäftig­ten bis 70 arbeiten? Das würde ich so nicht sagen. Aber wir müssen Anreize schaffen, flexibler und später in Rente zu gehen. Wer länger arbeiten will, soll es auch können. Es muss Teilzeitmo­delle geben für die Älteren. Klar ist: Im Jahr 2030 brauchen wir ähnlich viele Menschen wie heute, die in die Rentenkass­e einzahlen. Also brauchen wir mehr Frauen, wir brauchen mehr Langzeitar­beitslose in Arbeit – die oft keine abgeschlos­sene Berufsausb­ildung haben – und mehr qualifizie­rte Zuwanderun­g in den Arbeitsmar­kt. Vielleicht sollten einfach jetzt schon mehr Menschen in die Rente einzahlen – auch Selbststän­dige. Selbststän­dige müssen meines Erachtens nicht zwingend in die gesetzlich­e Rentenkass­e einzahlen, aber sie sollten zur Altersvors­orge verpflicht­et werden. Es gibt ja auch zum Beispiel berufsstän­dische Vorsorgewe­rke. Manche Selbststän­dige fallen im Rentenalte­r der Allgemeinh­eit zur Last, weil sie nie fürs Alter vorgesorgt haben. Ich unterstütz­e jeden Politiker, der sich für eine gesetzlich verpflicht­ende Altersvors­orge für alle einsetzt.

 ??  ?? „Es muss Teilzeitmo­delle geben für die Älteren“: Ingo Kramer, Chef der Arbeitgebe­rverbände. Foto: Reto Klar
„Es muss Teilzeitmo­delle geben für die Älteren“: Ingo Kramer, Chef der Arbeitgebe­rverbände. Foto: Reto Klar

Newspapers in German

Newspapers from Germany