Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)
„Mich freut es für Marie Jaëll!“
Die Weimarer Pianistin Cora Irsen und das Altenburger Label „querstand“erhalten einen „Echo Klassik“
Thomas Gottschalk, der Sonnyboy und Frauenversteher, merkt’s, wenn er Ende Oktober die feierliche Verleihung der „Klassik-Echos“in der Elbphilharmonie moderiert, bestimmt sofort: dass bei den Gästen aus Thüringen nicht nur Musik mit Niveau, sondern tief glühende, romantische Leidenschaft im Spiel ist. Cora Irsen, Pianistin aus Weimar, hat das Werk Marie Jaëlls (1846-1925) für das Altenburger Label querstand auf fünf CDs eingespielt und die Liszt-Elevin aus dem Elsass dem Vergessen entrissen. Dafür – zumal für die editorische Leistung – verleiht die Deutsche Phono-Akademie nun einen „Echo“, der naturgemäß undotiert bleibt.
„Ich hab mich unglaublich gefreut – vor allem für Marie Jaëll“, schildert Irsen am Telefon ihren verständlichen Gefühlsüberschwang nach der Bekanntgabe der Preise. Jetzt, von einer Konzertreise aus Taiwan zurückgekehrt, hat Irsen nur die Koffer getauscht und ist schon auf Hiddensee, wo sie zwei Rezital-Abende gegeben hat. „Und jetzt habe ich Urlaub“, lacht sie. In das Jaëll-Projekt hat Irsen über gut drei Jahre hinweg irrsinnig viel Energie gesteckt. Klaus-Jürgen Kamprad, der Altenburger Verleger, erinnert sich noch gut, wie sie anno 2014 bei ihm vorsprach: „Mit ihrer einnehmenden Art hat sie es geschafft, mich sofort mit dieser Idee zu infizieren.“
So leicht das klingt, war es allerdings nicht. Denn selbst von Experten der Klaviermusik erhält man auf den Namen Jaëll meist nur ein verblüfftes „Marie – wer?“zur Entgegnung. Kein Wunder, denn ein Gutteil des OEuvres schlummert unediert in Archiven, das meiste in Straßburg. Dabei hatte die Jaëll zu Lebzeiten einen großen Namen als reisende Virtuosin, indessen man sie als Komponistin weit weniger wahrnahm. Ein bisschen erging es der Weimarer Liszt-Schülerin da wie ehedem Clara Schumann, deren Fingerfertigkeit man zwar pries, ihr aber ebenfalls nichts Bleibendes zutraute.
Kamprad lässt Vorsicht walten: „Bei solchen Projekten bin ich zweigeteilt in meiner Brust“, gesteht er. „Euphorisch für die Kunst und skeptisch für den Kommerz.“Mit seinem kleinen Musik-Label kann er sich keine Zuschussgeschäfte leisten und verlangte – durchaus branchenüblich – eine fünfstellige Garantiesumme. Ergo initiierte Irsen – einmal entflammt, nicht mehr zu bremsen – ein Crowdfunding im Internet, was seinerzeit im Pop, jedoch nicht in der vermeintlich altbackenen E-MusikBranche Usus war. Und sie reüssierte: Hunderte neugieriger Hörer spendeten Kleinstbeträge für ein Dankeschön und brachten so das Jaëll-Projekt auf den Weg. Einen kleinen Anteil am „Echo“tragen auch sie.
„Auf die Plätze – fertig – Aufnahme!“, hieß es damit noch lange nicht. Unermesslich viel Kraft hat Irsen investieren müssen, um ans Notenmaterial zu gelangen, zumeist in Gestalt aus dem Straßburger Archiv fotokopierter Handschriften. Vor jeglicher Interpretation steht in solchen Fällen die musikwissenschaftliche Schweiß- und Fleißarbeit.
Leicht von der Hand geht die Musik der Jaëll nicht unbedingt. Die von Liszt als eine der führenden Virtuosinnen der Zeit hoch geschätzte Musikerin setzte als Komponistin Avantgarde-Akzente – und bei Interpreten eine spieltechnische Kompetenz entsprechend ihrer eigenen selbstverständlich voraus. Jaëll, mit Saint-Saëns und Franck befreundet und in der Szene gut etabliert, lernte Franz Liszt, den MusikStar und inzwischen erotisch reservierter gewordenen Frauenschwarm, anno 1868 kennen. Sie kam nach Weimar und studierte bei ihm. So mag sich ein fruchtbarer Austausch im Musikalischen entsponnen haben, und es wuchs ein Einverständnis im Kunstreligiösen, eine Art metaphysische Seelenumarmung, so dass Liszt ihr seinen dritten „Mephisto-Walzer“zueignete.
Kein Wunder also, dass Cora Irsen, die an der Weimarer Liszt-Hochschule bei dem als Liszt-Interpreten renommierten Rolf-Dieter Arens studierte, fast 150 Jahre später über Liszt zu Jaëll kam; schon angesichts der Parallelität dieser Vorgänge wundert es nicht, wie leidenschaftlich sich Irsen für die Belange Jaëlls einsetzt, gleichsam als eine Schwester im Geiste über die Zeitläufe hinweg.
Davon, welche Mühe sie hatte, schweigt sie heute beredt. „Ich habe sehr gearbeitet“, sagt sie nur. Denn die Jaëll war nicht zimperlich. Obzwar sie als Klavierpädagogin als Erste von den physiologischen Maßgaben des Menschen – nach damaliger medizinischer Erkenntnis – ausging, bereiten einige ihrer Werke dem Interpreten geradezu körperliche Strapazen. Nachdem sie das zweite Klavierkonzert Jaëlls eingespielt habe, habe sie therapeutische Betreuung nötig gehabt, scherzte Irsen einmal – und hat das wohl nicht als Witz gemeint. Im reichen OEuvre der Französin gibt es auch leichter spielbare Musik, durchaus für den Hausgebrauch, urteilt sie. „Ich glaube, sie wird jetzt schon ein bisschen öfter gespielt“, meint die Jaëll-Prophetin. Und gerade das zweite Klavierkonzert, das seinerzeit in Weimar uraufgeführt wurde, würde sie gern an Ort und Stelle mit der Staatskapelle wieder aufführen.
Vorerst kennen wir nur die – nunmehr preisgekrönte – Aufnahme mit dem Kölner Rundfunkorchester. Damit und mit der editorischen Leistung hat Irsen, wie Kamprad betont, „wirkliche Pionierarbeit“vollbracht. Aus Leidenschaft – was Thomas Gottschalk bei der „Echo“-Gala in Hamburg gewiss erspürt.