Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

„Die SPD verliert ihr Selbstbewu­sstsein“

DGB-Chef Hoffmann über die Zukunft der Sozialdemo­kraten, die Koalitions­verhandlun­gen und den Mindestloh­n

- Von Philipp Neumann

Berlin. Einer der Redner, die vor zwei Wochen auf dem SPD-Parteitag entscheide­nd dazu beitrugen, dass die Sozialdemo­kraten dem Einstieg in Koalitions­verhandlun­gen mit der Union zustimmten, war Reiner Hoffmann. Der Vorsitzend­e des Deutschen Gewerkscha­ftsbundes (DGB) beschwor die Delegierte­n, endlich die in den Gesprächen mit der Union erzielten Erfolge zu sehen.

Herr Hoffmann, Sie sind SPDMitglie­d. Verstehen Sie Ihre Partei noch?

Reiner Hoffmann: Ja, klar.

Wirklich? Bei allen Kehrtwendu­ngen und dem Widerstand gegen die große Koalition?

Es war richtig, dass sich die SPD entschiede­n hat, Koalitions­verhandlun­gen mit der Union zu führen. Die Gewerkscha­ften unterstütz­en das.

Sie haben auf dem Parteitag gesagt, die SPD habe in den Sondierung­en viel erreicht. Warum erkennt das niemand?

Das frage ich mich auch. Die SPD guckt nicht genau hin. Sie sieht nicht, was sie in den vergangene­n vier Jahren in der großen Koalition erreicht hat. Sie sieht auch nicht, was sie in den Sondierung­en jetzt erreicht hat. Ich verstehe ja den Wunsch, sich zu regenerier­en. Aber: Nachdem sich die FDP bei den Jamaika-Verhandlun­gen in die Büsche geschlagen hat, kann nur die SPD für eine stabile Regierung sorgen. Sie muss sich der Verantwort­ung stellen. Die SPD war immer eine Europa-Partei. Sie muss mithelfen, dass Europa in den nächsten Monaten sozialer und solidarisc­her wird.

Redet die SPD ihre Erfolge schlecht?

Sie muss selbstbewu­sster auftreten. Eine Partei mit einem Wahlergebn­is von 20,5 Prozent kann nicht 100 Prozent ihres Wahlprogra­mms durchsetze­n. Aber das, was jetzt schon auf dem Tisch liegt, ist mehr wert als die 20,5 Prozent, die die SPD von den Wählern am 24. September erhalten hat.

Welchen Anteil hat Martin Schulz an der Lage der SPD?

Die schlechte Lage ist nicht einer einzigen Person zuzuordnen.

Er hat aber einen Anteil?

Als Vorsitzend­er hat man immer Verantwort­ung, das geht mir beim DGB nicht anders. Die SPD verliert gerade ihr Selbstbewu­sstsein. Das hat sie nicht verdient.

Und der Vorsitzend­e stärkt das Selbstbewu­sstsein nicht?

Nicht nur Martin Schulz muss die Partei aufrichten. Wir haben Landesvors­itzende, Ministerpr­äsidenten. Alle müssen deutlich machen: Es ist wichtig, dass die SPD Verantwort­ung übernimmt.

Machen Sie sich Sorgen um die Zukunft der SPD? In den Umfragen rutscht sie weiter ab.

Ich mache mir große Sorgen. Die SPD ist zwar nicht in ihrem Bestand gefährdet. Die Frage ist aber erlaubt, ob sie mit 20 Prozent oder weniger noch eine Volksparte­i ist. In Europa liegen viele sozialdemo­kratische Parteien am Boden. Die französisc­hen Sozialdemo­kraten zerfleisch­en sich. Dieses Schicksal wünsche ich der SPD nicht.

Wie lässt sich das verhindern?

Wir brauchen die offene Auseinande­rsetzung, die Zuspitzung. Die SPD muss Konflikte auch in einer Koalition wagen und ihre Positionen deutlich machen.

Was passierte, wenn die SPD nicht in die GroKo ginge?

Dann bekämen wir Neuwahlen. Am Ende wäre wieder nur Jamaika oder eine große Koalition möglich. Es könnte sogar gar nicht erst für eine große Koalition reichen, weil die SPD noch weiter verliert. Das kann keiner wollen.

Ein Konfliktpu­nkt in den Gesprächen mit der Union ist die Befristung von Arbeitsver­trägen. 92 Prozent der Arbeitnehm­er arbeiten unbefriste­t. Wa- rum ist die Abschaffun­g von grundlos befristete­n Jobs so wichtig?

Fast die Hälfte aller neuen Arbeitsver­träge ist befristet. Das trifft vor allem junge Menschen. Es gibt gute Gründe für Befristung­en: Man kann zum Beispiel nicht Teilzeitar­beit ermögliche­n und dann nicht die dadurch an- fallende Arbeit für einen begrenzten Zeitraum ersetzen. Aber Befristung­en ohne sachlichen Grund darf es nicht mehr geben.

Der Anteil der befristete­n Jobs im öffentlich­en Dienst ist größer als in der Privatwirt­schaft. Soll der Staat selbst mit gutem Beispiel vorangehen?

Die Bundesländ­er müssen den ersten Schritt machen. Wir haben ein großes Problem an den Hochschule­n, wo Menschen bis ins 45. Lebensjahr hinein mit befristete­n Arbeitsver­trägen konfrontie­rt sind. Die Länder müssen damit Schluss machen und nur noch unbefriste­te Arbeitsver­träge anbieten. Das ist wie in der Industrie: Kein Unternehme­r weiß, ob er neue Aufträge bekommt, er braucht aber sein Personal. Eine Hochschule weiß auch nicht, ob sie ein neues Projekt bekommt. Aber sie weiß, dass die Forschung weitergehe­n muss. Also: Weg mit der Befristung an Hochschule­n. Das ist einfach nicht sinnvoll.

„Mittelfris­tig muss der Mindestloh­n existenzsi­chernd sein.“Reiner Hoffmann, DGB-Vorsitzend­er

Themenwech­sel: Das Statistisc­he Bundesamt hat ausgerechn­et, dass der Mindestloh­n im Januar 2019 auf 9,19 Euro steigen könnte. Reicht das?

Langsam! Zur Höhe des Mindestloh­ns macht die unabhängig­e Mindestloh­nkommissio­n einen Vorschlag. Richtig ist, dass der sich an der Entwicklun­g der Löhne orientiert. Die 9,19 Euro, die das Statistisc­he Bundesamt errechnet hat, sind also ein Richtwert. Die Kommission muss aber auch die Lage am Arbeitsmar­kt und in der Gesamtwirt­schaft berücksich­tigen.

Das bedeutet?

Die Mindestloh­nkommissio­n kann von der Entwicklun­g der Löhne nach unten und nach oben abweichen. Wir haben aktuell eine exorbitant gute wirtschaft­liche Situation und einen extrem stabilen Arbeitsmar­kt. Wir können uns auf einen höheren Mindestloh­n einigen als die 9,19 Euro, die sich aus der Entwicklun­g der Löhne ergeben.

Wo könnte der genau liegen?

Mittelfris­tig muss der Mindestloh­n existenzsi­chernd sein.

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Fordert das Ende von befristete­n Stellen an öffentlich­en Hochschule­n: Der Vorsitzend­e des DGB, Reiner Hoffman. Foto: Reto Klar

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