Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)
„Die SPD verliert ihr Selbstbewusstsein“
DGB-Chef Hoffmann über die Zukunft der Sozialdemokraten, die Koalitionsverhandlungen und den Mindestlohn
Berlin. Einer der Redner, die vor zwei Wochen auf dem SPD-Parteitag entscheidend dazu beitrugen, dass die Sozialdemokraten dem Einstieg in Koalitionsverhandlungen mit der Union zustimmten, war Reiner Hoffmann. Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) beschwor die Delegierten, endlich die in den Gesprächen mit der Union erzielten Erfolge zu sehen.
Herr Hoffmann, Sie sind SPDMitglied. Verstehen Sie Ihre Partei noch?
Reiner Hoffmann: Ja, klar.
Wirklich? Bei allen Kehrtwendungen und dem Widerstand gegen die große Koalition?
Es war richtig, dass sich die SPD entschieden hat, Koalitionsverhandlungen mit der Union zu führen. Die Gewerkschaften unterstützen das.
Sie haben auf dem Parteitag gesagt, die SPD habe in den Sondierungen viel erreicht. Warum erkennt das niemand?
Das frage ich mich auch. Die SPD guckt nicht genau hin. Sie sieht nicht, was sie in den vergangenen vier Jahren in der großen Koalition erreicht hat. Sie sieht auch nicht, was sie in den Sondierungen jetzt erreicht hat. Ich verstehe ja den Wunsch, sich zu regenerieren. Aber: Nachdem sich die FDP bei den Jamaika-Verhandlungen in die Büsche geschlagen hat, kann nur die SPD für eine stabile Regierung sorgen. Sie muss sich der Verantwortung stellen. Die SPD war immer eine Europa-Partei. Sie muss mithelfen, dass Europa in den nächsten Monaten sozialer und solidarischer wird.
Redet die SPD ihre Erfolge schlecht?
Sie muss selbstbewusster auftreten. Eine Partei mit einem Wahlergebnis von 20,5 Prozent kann nicht 100 Prozent ihres Wahlprogramms durchsetzen. Aber das, was jetzt schon auf dem Tisch liegt, ist mehr wert als die 20,5 Prozent, die die SPD von den Wählern am 24. September erhalten hat.
Welchen Anteil hat Martin Schulz an der Lage der SPD?
Die schlechte Lage ist nicht einer einzigen Person zuzuordnen.
Er hat aber einen Anteil?
Als Vorsitzender hat man immer Verantwortung, das geht mir beim DGB nicht anders. Die SPD verliert gerade ihr Selbstbewusstsein. Das hat sie nicht verdient.
Und der Vorsitzende stärkt das Selbstbewusstsein nicht?
Nicht nur Martin Schulz muss die Partei aufrichten. Wir haben Landesvorsitzende, Ministerpräsidenten. Alle müssen deutlich machen: Es ist wichtig, dass die SPD Verantwortung übernimmt.
Machen Sie sich Sorgen um die Zukunft der SPD? In den Umfragen rutscht sie weiter ab.
Ich mache mir große Sorgen. Die SPD ist zwar nicht in ihrem Bestand gefährdet. Die Frage ist aber erlaubt, ob sie mit 20 Prozent oder weniger noch eine Volkspartei ist. In Europa liegen viele sozialdemokratische Parteien am Boden. Die französischen Sozialdemokraten zerfleischen sich. Dieses Schicksal wünsche ich der SPD nicht.
Wie lässt sich das verhindern?
Wir brauchen die offene Auseinandersetzung, die Zuspitzung. Die SPD muss Konflikte auch in einer Koalition wagen und ihre Positionen deutlich machen.
Was passierte, wenn die SPD nicht in die GroKo ginge?
Dann bekämen wir Neuwahlen. Am Ende wäre wieder nur Jamaika oder eine große Koalition möglich. Es könnte sogar gar nicht erst für eine große Koalition reichen, weil die SPD noch weiter verliert. Das kann keiner wollen.
Ein Konfliktpunkt in den Gesprächen mit der Union ist die Befristung von Arbeitsverträgen. 92 Prozent der Arbeitnehmer arbeiten unbefristet. Wa- rum ist die Abschaffung von grundlos befristeten Jobs so wichtig?
Fast die Hälfte aller neuen Arbeitsverträge ist befristet. Das trifft vor allem junge Menschen. Es gibt gute Gründe für Befristungen: Man kann zum Beispiel nicht Teilzeitarbeit ermöglichen und dann nicht die dadurch an- fallende Arbeit für einen begrenzten Zeitraum ersetzen. Aber Befristungen ohne sachlichen Grund darf es nicht mehr geben.
Der Anteil der befristeten Jobs im öffentlichen Dienst ist größer als in der Privatwirtschaft. Soll der Staat selbst mit gutem Beispiel vorangehen?
Die Bundesländer müssen den ersten Schritt machen. Wir haben ein großes Problem an den Hochschulen, wo Menschen bis ins 45. Lebensjahr hinein mit befristeten Arbeitsverträgen konfrontiert sind. Die Länder müssen damit Schluss machen und nur noch unbefristete Arbeitsverträge anbieten. Das ist wie in der Industrie: Kein Unternehmer weiß, ob er neue Aufträge bekommt, er braucht aber sein Personal. Eine Hochschule weiß auch nicht, ob sie ein neues Projekt bekommt. Aber sie weiß, dass die Forschung weitergehen muss. Also: Weg mit der Befristung an Hochschulen. Das ist einfach nicht sinnvoll.
„Mittelfristig muss der Mindestlohn existenzsichernd sein.“Reiner Hoffmann, DGB-Vorsitzender
Themenwechsel: Das Statistische Bundesamt hat ausgerechnet, dass der Mindestlohn im Januar 2019 auf 9,19 Euro steigen könnte. Reicht das?
Langsam! Zur Höhe des Mindestlohns macht die unabhängige Mindestlohnkommission einen Vorschlag. Richtig ist, dass der sich an der Entwicklung der Löhne orientiert. Die 9,19 Euro, die das Statistische Bundesamt errechnet hat, sind also ein Richtwert. Die Kommission muss aber auch die Lage am Arbeitsmarkt und in der Gesamtwirtschaft berücksichtigen.
Das bedeutet?
Die Mindestlohnkommission kann von der Entwicklung der Löhne nach unten und nach oben abweichen. Wir haben aktuell eine exorbitant gute wirtschaftliche Situation und einen extrem stabilen Arbeitsmarkt. Wir können uns auf einen höheren Mindestlohn einigen als die 9,19 Euro, die sich aus der Entwicklung der Löhne ergeben.
Wo könnte der genau liegen?
Mittelfristig muss der Mindestlohn existenzsichernd sein.