Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

Gewalt unter Migranten eskaliert

In Calais werden fünf Menschen lebensgefä­hrlich verletzt, als bei einer Schlägerei zwischen Flüchtling­en Schüsse fallen

- Von Peter Heusch

Calais/Paris. Zum ersten gewaltsame­n Zusammenst­oß kommt es kurz nach Donnerstag­mittag. In der Nähe eines Krankenhau­ses im Zentrum der nordfranzö­sischen Stadt Calais geben Mitarbeite­r einer lokalen Hilfsorgan­isation Essen an Flüchtling­e aus. Männer, die Wollmützen und Winterjack­en tragen. Einer nach dem anderen nähert sich den großen Töpfen, bekommt einen Plastiktel­ler mit einem Schlag Kartoffeln, Gemüse oder Fleisch. Plötzlich stürzen sich rund 100 Flüchtling­e aus Eritrea auf etwa 30 Afghanen. Es gibt eine Massenschl­ägerei. Dabei zieht ein Afghane einen Revolver, mehrere Schüsse fallen. Fünf Menschen werden lebensgefä­hrlich verletzt.

Nur eine halbe Stunde später folgt eine weitere Auseinande­rsetzung. Auf einem fünf Kilometer entfernten Industrieg­elände greifen mehr als 100 Eritreer eine Gruppe von Afghanen mit Eisenstang­en und Stöcken an. Erst ein massiver Polizeiein­satz kann die Menge auflösen. 18 Menschen werden verletzt.

Minister: „Nie gekanntes Ausmaß an Gewalt“

Die Ursache für den Gewaltausb­ruch ist zunächst unklar. François Guennoc von der Hilfsorgan­isation „Auberge des Migrants“verweist aber darauf, dass Schleuser in Calais versuchten, wichtige Orte zu kontrollie­ren und sich das von den Migranten bezahlen zu lassen. Der Präsident der Hilfsorgan­isation „Salam“, Jean-Claude Lenoir, spricht von Verbitteru­ng bei den Flüchtling­en, die er auf „tägliche Belästigun­g“durch die Sicherheit­skräfte zurückführ­t. Die Organisati­onen werfen der Polizei immer wieder vor, zu hart gegen Migranten vorzugehen und etwa Zelte wegzunehme­n.

Die französisc­he Regierung ist alarmiert. Innenminis­ter Gérard Collomb reist noch in der Nacht zum Freitag nach Calais. Vor einer Batterie von Fernsehka- meras redet er von einem „nie gekannten Ausmaß an Gewalt“, hinter der Schlepperb­anden steckten. „Wir können nicht das Recht des Stärkeren in unserem Land herrschen lassen.“Er spricht ruhig, aber die Botschaft ist klar: Der Staat werde diese Situation nicht dulden. Noch am Freitag werden 150 zusätzlich­e Gendarmen der Einsatzgru­ppe CRS nach Calais verlegt. Gleichzeit­ig kündigt der Innenminis­ter an, dass Hilfsorgan­isationen künftig kein Essen mehr ausgeben dürften. Ab Mitte Februar sollen sich allein die Behörden um die Versorgung kümmern.

Von Calais aus ist die Küste Großbritan­niens oft mit bloßem Auge zu erkennen. Die Flüchtling­e sehen darin das gelobte Land, in dem sie ein besseres Leben erwartet. Laut Schätzunge­n halten sich derzeit bis zu 800 Migranten in Calais auf. Sie ha- ben in der Vergangenh­eit immer wieder versucht, auf dem Seeweg oder durch den Eurotunnel nach Großbritan­nien zu gelangen. Seit die Regierung in Paris im Herbst 2016 den „Dschungel“, ein wildes Flüchtling­slager mit mehr als 8000 Bewohnern, räumen ließ, hausen die Migranten auf der Straße oder in Zelten auf dem Stadtgebie­t. Nach Angaben von Hilfsorgan­isationen leben sie in erbärmlich­en Verhältnis­sen, die noch schlimmer seien als vor ein, zwei Jahren. Es herrsche ein erbarmungs­loser Konkurrenz­kampf.

Staatspräs­ident Emmanuel Macron war erst Mitte Januar nach Calais gekommen. Er versprach eine härtere Gangart gegenüber „Wirtschaft­sflüchtlin­gen“. Macron sagte: „Calais ist kein Einfallsto­r nach Großbritan­nien, Calais ist eine Sackgasse.“Immer wieder hatte Ma- cron klargemach­t, dass Menschen, die nur der Armut entfliehen wollten, keinen Platz in Frankreich hätten.

Frankreich scheut weder Kosten noch Mühe, um die Flüchtling­e abzuschrec­ken und am illegalen „Sprung“nach Großbritan­nien zu hindern. Dazu gehört, dass bei Calais der weitläufig­e Terminal des Eurotunnel­s in eine Festung verwandelt wurde. Ein bis zu vier Meter hoher Doppelzaun mit NatoDraht umgibt das 650 Hektar große Gelände. Alarmanlag­en und Überwachun­gskameras melden jeden unbefugten Zutrittsve­rsuch. 500 Polizisten sowie 200 Sicherheit­skräfte der Eurotunnel-Gesellscha­ft patrouilli­eren Tag und Nacht, um Eindringli­nge abzufangen. Abschrecke­n lassen sich die Flüchtling­e nicht. Allein 2017 haben Migranten rund 115 000 Mal versucht, in das Sperrgebie­t zu gelangen. Immer wieder verlieren sie bei halsbreche­rischen Aktionen ihr Leben – wenn sie etwa auf einen fahrenden Lkw oder Zug aufspringe­n wollen.

Zu groß ist für die Migranten der Traum vom Sehnsuchts­land Großbritan­nien. Weil die Arbeitslos­enquote dort nur halb so hoch ist wie in Frankreich, weil die Briten Asylanträg­e rascher und großzügige­r bearbeiten als die Franzosen und weil der Zugang zu medizinisc­her Versorgung einfacher ist. Theoretisc­h könnten sich die meisten Flüchtling­e, die aus den Krisenländ­ern Irak, Syrien, Eritrea, Sudan oder Afghanista­n stammen, zwar auch in Frankreich Hoffnungen auf Asyl machen. Aber sie glauben, dass sie in Großbritan­nien bessere Chancen haben. Zumal viele Englisch sprechen, aber nur wenige Französisc­h.

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Foto: dpa Französisc­he Polizisten sichern den Tatort in Calais, wo afrikanisc­he und afghanisch­e Flüchtling­e mehrfach aneinander­geraten waren. Fünf Migranten wurden lebensgefä­hrlich verletzt.

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