Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

Als Erfurt Drehscheib­e Schwedens war

Der Jenaer Historiker Georg Schmidt stellt ein Standardwe­rk zum Dreißigjäh­rigen Krieg vor

- Von Karsten Jauch

Erfurt. Am 23. Mai gegen 9 Uhr eskalierte die Situation. Unter Führung des Grafen Heinrich Matthias von Thurn stürmte eine kleine Gruppe die böhmische Kanzlei auf dem Hradschin. „Sie trieb die Angst vor dem Verlust ihres evangelisc­hen Glaubens, ihrer Privilegie­n und ihrer nationalen Autonomie. Ihres Erachtens missachtet­e König Ferdinand II. die Freiheit Böhmens, das er rekatholis­ieren und in eine monarchisc­h regierte Provinz verwandeln wollte.“

Auf wenigen Seiten beschreibt Georg Schmidt den berühmten Prager Fensterstu­rz, der 1618 zum Auslöser des Dreißigjäh­rigen Krieges wurde. Es ist eine beispiello­se Katastroph­e, die damals ihren Ausgang nahm. Bis heute ist dieser Krieg in Thüringer Gemeinden ein Schreckges­penst geblieben. Hier tummelten sich vor 400 Jahren die Armeen. Die Chroniken berichten davon. Kaum eine Stadt blieb verschont. Georg Schmidt entwirft in seinem Buch „Die Reiter der Apokalypse“dieses düstere Panorama – er erklärt Ursache, Verlauf und Wirkung dieses Krieges. „Es gehört zu den Paradoxen des Dreißigjäh­rigen Krieges, dass er von Anfang an kein Glaubenskr­ieg war, aber als solcher inszeniert wurde, um Unterstütz­ung zu finden. Die Konfession als Kriegsgrun­d versprach mehr als alle anderen Motive Solidaritä­t, weil sie das binäre Freund-Feind-Schema bedient.“Quer zur Glaubensfr­ont standen zudem die politische­n Auseinande­rsetzungen um monarchist­ische Pläne, führt Georg Schmidt aus. Es ging um Differenze­n zwischen Reichsstän­den, Kurfürsten, Fürsten und Städten um die Verteilung von Befugnisse­n und Ansprüchen. Hinzu kamen soziale Konflikte. „Dieses Geflecht hat den Krieg nicht verursacht oder ausgelöst, sondern ihn lange eher verhindert.“

Der Prager Fensterstu­rz mag als Beginn des Krieges angesehen werden, Georg Schmidt bettet aber die Geschehnis­se in ein europäisch­es Umfeld ein. So analysiert er die französisc­hen Bürgerkrie­ge oder den niederländ­ischen Freiheitsk­ampf, der als Nachbarkon­flikt schwelte und bereits 1568 begann, weshalb er dort auch als Achtzigjäh­riger Krieg bezeichnet wird. Mit vielen zeitgenöss­ischen Quellen erklärt der Autor den Kriegsweg, der von einem Konflikt in Böhmen zum mitteleuro­päischen Aufmarsch der Blöcke wurde: der 1609 gegründete protestant­ischen Union und der im selben Jahr ins Leben gerufenen katholisch­en Liga. Man könnte schnell den Überblick verlieren, welcher Herrscher in den Krieg zog, doch Georg Schmidt erklärt geduldig die unterschie­dlichen Interessen, so dass man als Leser in diesem 800 Seiten starken Band nie den Faden verliert. Mit der Landung des schwedisch­en Königs Gustav II. Adolf am 6. Juli 1630 auf Usedom nahm der Krieg an Schärfe zu. Der Schwedenkö­nig, so scheint es, raste nach Süden. Er galt als Retter der Protestant­en. Noch heute tragen viele Straßen seinen Namen. „Der gottgewoll­te Krieg, in dem die Feinde auf einem überschaub­aren Kampfplatz vernichtet wurden, ließ sich nicht mit einem irdischen Kompromiss beenden.“Am 2. Oktober 1631 zog das schwedisch­e Heer in Erfurt ein. Gustav II. Adolf soll sich die Klagen der Bürger angehört haben, „wies aber alle Einwände… auf das Recht des Siegers zurück.“Die Erfurter Garnison sei unverzicht­bar, „denn dieser Ort, in dem vielen Bewohnern nicht zu trauen sei, dürfe nicht in die Hände der Feinde fallen. Die katholisch­e Religion in der Stadt wurde geduldet, sofern die Kontributi­onen regelmäßig eingingen.“Die Besetzung dauerte fast 20 Jahre. „Erfurt wurde zum Hauptstütz­punkt des Vormarsche­s der Schweden und zur Drehscheib­e ihrer Deutschlan­dpolitik.“Andernorts hatten die Städte nicht so viel Glück. „Gustav Adolf verteilte seine Gunst und die eroberten Landstrich­e nach Gutdünken und war für seine Allianzpar­tner unberechen­bar.“Mit 14 000 Soldaten marschiert­er er über Schmalkald­en nach Franken. In Würzburg plündern sie die Residenz des Bischofs.

„Die Schweden machten in seiner Residenz reiche Beute und sandten viele Bücher Uppsala, andere landeten in Gotha.“Das in Franken geraubte Vieh, „trieben die Soldaten zurück bis nach Meiningen, um es dort zu einem Viertel des üblichen Marktpreis­es zu verhökern“.

Nach Jahre des Gemetzels ist das Land geschunden, Millionen Menschen sind gestorben. Vermutlich sind 40 Prozent der Landbevölk­erung dem Krieg und den Seuchen zum Opfer gefallen, in den Städten etwa 30 Prozent.

Natürlich untersucht der Historiker Georg Schmidt auch die Reflexion des Westfälisc­hen Friedens des Jahres 1648. „Die Schrecken des Krieges wurden vor 1800 eigentlich nicht sonderlich thematisie­rt.“Er spielte bestenfall­s dann eine Rolle, „wenn wie bei Schiller das Prinzip des Guten durch Böses zur Geltung gebracht werden soll.“Erst im 19. Jahrhunder­t ändert sich offenbar die Wahrnehmun­g, in dem der Krieg als politische Katastroph­e gesehen wurde. Nach fast 700 Seiten zieht der Autor ein kluges Fazit: „Die Einordnung des Dreißigjäh­rigen Krieges einen heilsgesch­ichtlichen und einen freiheitli­ch-konstituti­onellen Rahmen macht die Opfer … natürlich nicht ungeschehe­n. Die Neuerzählu­ng löst den Schrecken und das Leid jedoch aus dem einst plausiblen, heute jedoch falschen Zusammenha­ng mit der preußische­n Mission zur Gründung des deutschen Nationalst­aates.“

Es geht nicht mehr und nicht weniger um die Eintracht religiöser Duldung und freiheitli­cher Vielfalt.

 ??  ?? Der Stahlstich von Ferdinand Rothbart (–) zeigt die Schlacht bei Lützen, bei der König Gustav II. Adolf  starb. In Erfurt residierte der König am Domplatz im Gasthaus „Hohe Lilie“. Fotos: Imago, Frank Karmeyer
Der Stahlstich von Ferdinand Rothbart (–) zeigt die Schlacht bei Lützen, bei der König Gustav II. Adolf  starb. In Erfurt residierte der König am Domplatz im Gasthaus „Hohe Lilie“. Fotos: Imago, Frank Karmeyer
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany