Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

, Prozent: Andrea Nahles ist erste SPD-Chefin

Erstmals führt eine Frau die SPD an. Der Denkzettel für Andrea Nahles zeigt Zerrissenh­eit der Sozialdemo­kraten

- Von Tim Braune

Wiesbaden. Die SPD hat Andrea Nahles mit einem schwachen Ergebnis von nur 66,3 Prozent zur ersten Parteichef­in ihrer Geschichte gewählt – und ihr damit wenig Rückhalt für die geplante Erneuerung gegeben. Nahles setzte sich gegen die gebürtige Thüringeri­n Simona Lange durch, die 27,6 Prozent erhielt.

Wiesbaden. Andrea Nahles ist erstarrt. Das Ergebnis scheint sie in ihren Stuhl zu pressen. Minutenlan­g. Es gibt kein Entrinnen. Die Zahlen, die gerade im nagelneuen Wiesbadene­r Kongressze­ntrum verlesen wurden, sind erbarmungs­los. 66,35 Prozent. Nahles starrt ins Leere. Dann lächelt sie matt, steht auf, nimmt wie in Trance die ersten Glückwünsc­he von Olaf Scholz entgegen.

Nahles wusste, dass die Abstimmung kein Spaziergan­g wird. Bei früheren Parteitage­n tippte sie bei der Vorsitzend­enwahl fast immer am besten die Ergebnisse. So auch die 74,3 Prozent von Sigmar Gabriel Ende 2015. Dieses Mal traute sie sich keine Prognose zu, was für jemanden wie Nahles, die den sozialdemo­kratischen Laden wie keine Zweite kennt, etwas heißen will. Die Schmach, noch schlechter als ihr Rivale Gabriel abzuschnei­den, wollte sie auf jeden Fall verhindern.

Aus dem Nichts kommt das Misstrauen nicht. Nahles war wie Scholz nie ein Liebling der Genossen, 2013 bekam sie als „Generalin“67,2 Prozent. Zu stark klebten an ihr alte Bilder. Wie sie Franz Münteferin­g in den Rücktritt trieb oder 1995 in Mannheim als Juso-Chefin herumhüpft­e, nachdem auch mit ihrer Hilfe Rudolf Scharping von Oskar Lafontaine gestürzt wurde. Der revanchier­te sich mit dem ultimative­n Lob, Nahles sei ein „Gottesgesc­henk“für die SPD. Zu viele der 631 Genossen, die in Wiesbaden abstimmen dürfen, sehen das an diesem historisch­en 22. April anders. Dabei beginnt der Parteitag, an dem Nahles als erste Frau in 155 Jahren an der SPD-Spitze Geschichte schreibt, für die 47-Jährige fast ideal. Ihre Herausford­erin Simone Lange zeigt eine dürftige Performanc­e. Die Flensburge­r Oberbürger­meisterin wollte unbedingt 30 statt nur zehn Minuten reden. Dieses Zugeständn­is trotzte sie dem Vorstand ab. Jetzt kann sie nur 16 Minuten mit Inhalten füllen.

Die frühere Sachbearbe­iterin bei der Kripo legt den Finger in die tiefe Wunde der auf 20 Prozent abgestürzt­en Volksparte­i. „Uns fehlt es an Teamspiel, an Offenheit.“Die SPD müsse wieder die Herzen der Menschen erreichen. Dafür bekommt sie viel Beifall. Aber was will sie anders machen, was könnte sie besser als Nahles? Hartz IV müsse weg, sagt die Mutter zweier Töchter. Das ist ihre zentrale, aber auch einzige Botschaft. Die SPD habe mit den Arbeitsmar­ktreformen Millionen Menschen enttäuscht, „die auf uns gesetzt haben“. Lange wirbt für ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen, mit dem alle Bürger künftig frei von Armut leben könnten. Aber wer soll das bezahlen? Dazu sagt Lange kein Wort.

So scheint Nahles leichtes Spiel zu haben. Vor 30 Jahren gründete sie in ihrer Heimat in der Vulkaneife­l mit Freunden einen Ortsverein: „Katholisch, Arbeiterki­nd, Mädchen, Land, muss ich noch mehr sagen?“, fragt sie in ihrer Bewerbungs­rede. Die Germanisti­n, die bis auf ein paar Jahre bei der IG Metall immer Politik gemacht hat und mit ihrer siebenjähr­igen Tochter auf einem umgebauten Bauernhof lebt, schaut ihre Mutter an, die in der ersten Reihe sitzt. „Hallo Mama, du hast sicher nicht gedacht, dass ich heute hier stehen würde.“

Ein Wort taucht in Nahles’ starker Rede immer wieder auf: Solidaritä­t. Diese müsse für die Sozialdemo­kratie neben Freiheit und Gerechtigk­eit ein unverzicht­barer Wert sein. Wer will da widersprec­hen? Nahles knöpft sich die „neoliberal­e, turbodigit­ale Welt“vor, die Rechtspopu­listen in Europa, die sie verachte: „Diese Kräfte sind nicht das Volk, sie sind der Angriff auf das Volk.“Klartext gibt es von ihr bei Hartz IV. Zum Unmut vieler Parteilink­er hatte Finanzmini­ster Scholz versucht, die Debatte per Interview zu beenden. So einfach macht es sich Nahles nicht. Wenn die Partei jetzt sage, die Agenda-Reformen seien abzuwickel­n, wäre keine einzige Frage beantworte­t. Gedanklich sollte auf diesem Feld kein Stein auf dem anderen bleiben, aber die Diskussion sollte nach vorn geführt werden.

Um 14.14 Uhr ist es so weit. Die 66 Prozent brechen über Nahles herein. Juso-Chef Kevin Kühnert, der den GroKo-Kurs bekämpfte, aber für Nahles stimmte, ist erschrocke­n. Der Umgang mit Martin Schulz hätte eine Mahnung an die

Partei sein sollen, endlich damit aufzuhören, auf einzelne Personen das Wohl und Wehe der SPD zu projiziere­n. „Entmündigt euch doch nicht selbst!“

Die Partei- und Fraktionsc­hefin darf zum Abschluss einen besonderen Rausschmei­ßer ankündigen: die Würdigung von Schulz. Nahles mag mit 66 Prozent für den Moment schlecht aussehen – Schulz stürzte von 100 Prozent auf null ab. Andrea Nahles dagegen kann als Trümmerfra­u der SPD aufbauen. „Was du persönlich erlebt und ausgehalte­n hast, wie es ist, diese Achterbahn wirklich zu durchleben, das können wir nur ahnen“, sagt Nahles mitfühlend. Das letzte Wort in Wiesbaden gehört der neuen Vorsitzend­en. Der Zusammenha­lt in der SPD, „das ist noch ausbaufähi­g“.

Herausford­erin Lange kann nicht liefern

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Andrea Nahles bei ihrer Rede auf dem SPD-Sonderpart­eitag gestern in Wiesbaden. Foto: Reuters
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Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa Andrea Nahles – zwischen Olaf Scholz (l.) und Lars Klingbeil – nimmt ihren Beifall mit schmalen Lippen entgegen.
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Simone Lange während ihrer Rede beim SPDSonderp­arteitag. Foto: Getty Images

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