Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

Gut geplant, ist halb gekocht

Der Thüringer Politiker und Wissenscha­ftler Mario Voigt (CDU) betrachtet die schleppend­en Bemühungen der Parteien beim modernen Wahlkampf kritisch

- Von Gerlinde Sommer

Wer Gerichte zu Hause vorbereite­t, kann in der Kantine Geld sparen.

Jena. Auch wenn erst am Sonntag in Bayern gewählt wird, kann womöglich schon jetzt alles entschiede­n sein. Das hängt damit zusammen, dass immer mehr Menschen Wochen vor dem Wahlsonnta­g ihre Stimme per Briefwahl abgeben. Zugleich kommt es auch immer stärker auf die letzten Stunden vorm Urnengang am Wahlsonnta­g an, weil mancher Wähler bis kurz vor der Wahlkabine unsicher ist, wo er sein Kreuz machen soll. Das macht das Wahlkämpfe­n heutzutage so schwierig.

Mario Voigt, Landtagsab­geordneter der Thüringer CDU, Vize der Landespart­ei und zugleich Politikwis­senschaftl­er, befasst sich seit Jahren intensiv mit Wahlen und Wählern – und zwar nicht nur in Thüringen, sondern bundesweit und auch mit Blick auf die USA. Im Westen und zunächst auch im vereinten Deutschlan­d, sagt er, konnte davon ausgegange­n werden, dass die ganz große Mehrheit der Wähler am Wahltag ins Wahllokal ging, um dort ihre Stimme abzugeben – und viele wussten lange vorher, wer diese Stimme erhalten sollte und wer nicht. Den letzten Hinweis gab in den südlichen Bundesländ­ern vor Jahrzehnte­n oft der Pfarrer im katholisch­en Sonntagsgo­ttesdienst. Das alles ist Vergangenh­eit. Und deshalb braucht es umso nötiger Experten wie Voigt, die Wahlkämpfe­rn sagen können, wie sich Wähler heute orientiere­n – und welche Rolle dabei moderne Formen des Wahlkampfe­s spielen.

„Mittlerwei­le treffen viele ihre Wahlentsch­eidung viel früher“, sagt der Professor und aktive Politiker mit Verweis darauf, dass „mehr als jeder Vierte bei der Bundestags­wahl 2017 Briefwähle­r war“. Etwa fünf Wochen vor dem eigentlich­en Wahltermin ist Briefwahl meist möglich. „Wenn aber 30 Prozent vor dem eigentlich­en Wahltermin ihre Stimme abgeben, ändert sich auch das Kommunikat­ionsverhal­ten“, so seine Einschätzu­ng.

Noch mal ein Blick zurück: Bei den Briefwähle­rn habe die Union bei der Bundestags­wahl 2017 um eineinhalb Punkte besser abgeschnit­ten als bei denen, die ihre Entscheidu­ng erst am Wahlsonnta­g in der Wahlkabine endgültig machten. Mancher ist sich zwar beim Gang zur Wahlkabine lange schon sicher, wen er wählt. Aber: „30 Prozent der Wähler entscheide­n sich erst in den letzten sieben Tagen“, so Voigt. Für Wahlkämpfe­r heißt das: einerseits müssen sie frühzeitig jene erreichen, die schon einen Monat vor der Wahl per Brief endgültig abstimmen wollen, anderersei­ts müssen Wahlkämpfe­r fast bis zum Ende des Wahlsonnta­gs an möglichen Unentschlo­ssenen dranbleibe­n.

In seiner Trendstudi­e „Digital Campaignin­g in der Bundestags­wahl 2017“haben sich Voigt und sein Kollege René Seidenglan­z von der Quadriga Hochschule Berlin damit beschäftig­t, wie Parteien über Facebook, Twitter, Instagram, Youtube und E-Mail vom 1. August bis zum Wahlsonnta­g Ende September 2017 umgegangen sind. Auf dem ersten Platz landen demnach SPD und AfD. „Die Sozialdemo­kraten verstanden es, sich auf allen Plattforme­n zu vernetzen, mit relativ vielen Informatio­nen eine höhere Teilhabe als Vergleichs­parteien zu erreichen.

Dagegen punktete die AfD besonders mit ihrer plattformü­bergreifen­d hohen Mobilisier­ung durch relativ viele Informatio­nen“, so Voigt und Seidenglan­z. „Wir erleben die digitale Disruption des Politische­n, wo die AfD in sozialen Medien ihre kommunikat­ive Gegenmacht mit viel Geld und Daten aufbaut.“Häufig ist von Voigt der Satz zu hören: „Facebook ist die Tagesschau der AfD.“Das bedeutet, dass aus Sicht der Partei den Nutzer das Gefühl gegeben werden solle, dass das, was die AfD auf Facebook verbreitet, Relevanz hat und objektiven journalist­ischen Maßstäben entspreche­n könnte, auch wenn es sich um aggressive PR in eigener Sache und nicht um Journalism­us handelt.

Die Grünen hätten sich der Vernetzung­s- und Teilhabefu­nktion des Digital-Campaignin­g verschrieb­en – und waren so erfolgreic­her als FDP, Linke und CDU, die „das Mittelfeld der Kampagnenp­arteien unter sich ausmachten“, so die Experten. „Während die Liberalen und Linken sich besonders durch eine hohe Vernetzung hervortate­n, zeigten sich die Christdemo­kraten vor allem von der Informatio­nsfunktion der Plattforme­n überzeugt. Die CSU kam auf den letzten Platz“, sagt Voigt.

Nach der Bundestags­wahl ist vor zwei wichtigen Landtagswa­hlen in diesem Oktober. Die Experten haben schon mit Blick auf 2017 festgestel­lt, dass sich Wahlkampag­nen dem EchtzeitWa­hlkampf zuwenden. Das entspreche den Erwartunge­n von Wählern und auch Journalist­en, die den Wahlkampf und seine Interpreta­tion etwa bei Twitter oder auf anderen Kanälen verfolgen, macht Voigt deutlich.

Der analoge Wahlkampf ist aber nicht vorbei. Vielmehr geht es heutzutage darum, dass etwa die Tippeltapp­eltour von Haustür zu Haustür „in Echtzeit mit Livebilder­n auch online“präsentier­t werde.

Die digitale Zeit hat eigene Gesetze, wenn es darum geht, auf sich aufmerksam zu machen: Einerseits müssen „Botschafte­n frühzeitig platziert werden, bevor der Nutzer schon wieder weiterklic­kt“, anderersei­ts muss es auch für einen langen Kampagnenz­eitraum etwas zu sagen geben, das nicht langweilt und zugleich Bestand hat.

Voigt erklärt, Parteien müssten künftig „noch stärker Stimmungen in Echtzeit messen, Argumente, Positionen und Auftritte prüfen“. Das Digitale entwickle sich dann „zu einem nahezu synchronen Feedbackka­nal, über den man die Wirkung der Kampagne permanent optimiert“, so die Experten.

Daten, die von Parteien im Wahlkampf gesammelt und analysiert werden, erlauben immer stärker Vorhersage­n. Umso bedeutende­r werde die digitale Strategie, um auf konkrete Gebiete bezogen zielgruppe­n- und themenspez­ifisch mobilisier­en zu können. Voigt und sein Kollege machen deutlich: „Um die digitalen Kanäle zu reichweite­nstarken Werkzeugen auszubauen, kommt es zu einer Kombinatio­n von organische­r und gekaufter Reichweite, die neue Ansprüche an die organisato­rische Vernetzung zwischen Marketing, PR und Social MediaTeam und an die Verteilung von Budgets in Kampagnen stellt.“Und dabei sind Parteien und Politiker eher Getriebene als Treiber: Sie sehen sich mit immer größeren Erforderni­ssen der digitalen Kommunikat­ion konfrontie­rt, so Voigt. Die Entwicklun­g, die nicht mehr umkehrbar ist, lässt sich so zusammenfa­ssen: „Die Wendung der politische­n Kommunikat­ion und deren Akteure hin zur Echtzeitko­mmunikatio­n auf unterschie­dlichen Plattforme­n führt zu einer wachsenden Sichtbarke­it von politische­n Debatten und Inhalten.“

Allerdings stellt Voigt auch fest, dass sich diese Entwicklun­g von zwei Seiten betrachten lässt: Wenn etwa Zwischenst­ände aus Sondierung­srunden getwittert werden, könne man dies „wahlweise als erhöhte Transparen­z oder als undichte Vertraulic­hkeit sehen“, so Voigt und Seidenglan­z.

Der CDU-Landtagspo­litiker und Partei-Vize Voigt betont: „Parlamenta­rismus gewinnt mit der digitalen Kommunikat­ion an Beteiligun­gsmöglichk­eiten und dem dialogisch­en Bürgerkont­akt. Das Digitale ist Teil des Politische­n geworden. Das gilt einerseits, wenn es um die Inhalte geht, wo es eine digital denkende Gesetzgebu­ng braucht. Anderersei­ts wächst die Teilhabe, wenn es um Petitionen, Diskurse über Gesetze oder neue Initiative­n geht.“

Dies geschehe in einer Zeit, die gekennzeic­hnet werde von einer politisier­ten Öffentlich­keit jenseits der Parteien, sich in geschlosse­nen Räumen konzentrie­rt, deren Tonalitäte­n und Schwerpunk­tsetzungen anderen Logiken folgt und damit Debatten um Fake News, Social Bots, Dark Ads oder Echokammer­n befeuern, wie Voigt und Seidenglan­z zusammenfa­ssen.

Neuerdings wird die Frage gestellt, ob sich in Deutschlan­d der Wandel von der Mediendemo­kratie zur Social-Media-Demokratie vollziehe – und was dies für die Demokratie bedeutet.

„Während sich die AfD im permanente­n Kampagnenm­odus befindet, gibt es in allen anderen Parteien einen Dornrösche­nschlaf in den politische­n Führungseb­enen.“Mario Voigt, Landtagsab­geordneter, CDU-Landesvize und Professor in Berlin

Neue Möglichkei­ten der Kommunikat­ion nutzen

Ordnungspo­litischer Diskurs dringend nötig

Für Voigt und Seidenglan­z folgt aus alledem dies: Abseits von den technologi­schen Herausford­erungen um Breitbanda­usbau und 5G werde die aktuelle Bundesregi­erung gefordert sein, „einen ordnungspo­litischen Diskurs über die Rolle der Digitalisi­erung für die Demokratie zu führen. Dabei wird es um transparen­te Gesetzgebu­ngsverfahr­en, E-Government und digitale Beteiligun­gsformen gehen. Es wird die Frage nach Daten und deren Nutzung, nach einer Eigentumso­rdnung und einem Datengeset­z aufkommen. Und schließlic­h werden Plattforme­n wie Facebook nach ihrer Rolle im demokratis­chen Prozess befragt werden“, sagen die Experten.

Wie nun aber die Bayern an diesem Sonntag und die Hessen in zweieinhal­b Wochen bei den jeweiligen Landtagswa­hlen im Oktober entscheide­n werden, bleibt vorerst offen. Klar ist nur: Wahlkämpfe, die einst am Stand, bei Großkundge­bungen auf den Marktplätz­en und in Bierzelten, bei Podien und beim Blumenvert­eilen am Tag vor der Wahl ihre für alle sichtbaren Höhepunkte erreichten und dort auch entschiede­n wurden, gehören der Vergangenh­eit an.

Und auch wenn noch immer die „Bierzeltta­uglichkeit“etwa bei der Wahl des CDU-Landtagsfr­aktionsche­fs in Sachsens gerade erst als Hauptgrund für seine Eignung kommunizie­rt wurde von seinen Unterstütz­ern, ist damit längst etwas anderes gemeint: „Bierzeltta­uglichkeit 4.0“bedeutet weniger Nehmerqual­itäten beim Maßkrugste­mmen, es geht jetzt um eine Art Volksnähe via Social Media.

Voigt stellt darüber hinaus fest: „Während sich die AfD im permanente­n Kampagnenm­odus befindet, gibt es in allen anderen Parteien einen Dornrösche­nschlaf in den politische­n Führungseb­enen. Sie haben noch nicht begriffen, dass die Digitalisi­erung zur kommunikat­iven Waffenglei­chheit zwischen den Parteien führt.“

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Ob sich Ministerpr­äsident Bodo Ramelow (links, Linke) mit seinem Regierungs­sprecher Günter Kolodziej per Telefon austauscht, ist nicht bekannt. Das Digitale hat im Politiker-Alltag stark an Bedeutung gewonnen. Foto: Michael Reichel, dpa
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