Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)
Von Deutschland nach Deutschland und zurück
Klaus-Harald Tetzner aus Rudolstadt erinnert sich an eine abenteuerliche Radtour mit Gefängnisaufenthalt, als der Eiserne Vorhang noch nicht ganz so eisern war
Sommer 1954. Ich habe Ferien und die Hälfte der Oberschule auf dem Käthe-Kollwitz-Gymnasium in Zwickau hinter mich gebracht. Schon nach Abschluss der neunten Klasse berichteten meine Mitschüler über Fahrradtouren in die Bundesrepublik. Übernachtet wurde in Jugendherbergen für wenig Geld, und – wenn es möglich war – wurde irgendwo gearbeitet, um zu Geld zu kommen. Zu Westgeld. Der Kurs Ost zu West war damals 5 zu 1, also für 100 Mark Ost bekamen wir ungefähr 20 DM.
Bisher hatte ich Fahrradtouren nur durch Sachsen und Thüringen gemacht. 1954, als 16-Jähriger, wollte ich auch mal das Abenteuer West erleben. Mein Freund Hermann hatte „Westverwandte“im Raum Frankfurt/Main – Offenbach-Bieber. Wir ließen uns einladen und gingen mit der Einladung zur Passstelle in Zwickau. Stundenlang mussten wir warten, die Antragsteller standen aus dem Haus heraus.
Der Krieg war noch keine zehn Jahre vorüber, die Narben noch allgegenwärtig. Wir sind ja mit Ruinen aufgewachsen. Nachdem wir unseren Personalausweis abgegeben hatten, bekamen wir eine Bescheinigung mit Lichtbild für die Bundesrepublik Deutschland. Ein Jahr vorher – 1953 – war der Volksaufstand am 17. Juni. Die Fluchtwelle war ungeheuerlich. Wir merkten es daran, dass von unseren sieben Oberschulklassen des Jahrgangs 1952 ein Jahr später nur noch fünf Klassen besetzt werden konnten.
Wir starteten am Sonnabend, 10. Juli 1954. Wir wollten ab Zwickau mit dem Zug über Erfurt, Bebra nach Offenbach-Bieber in Hessen und zurück mit dem Fahrrad fahren.
Die Grenzkontrolle im Interzonenzug war nicht spektakulär. Interessant für uns war, dass wir aus dem Osten in den Westen, dann wieder in den Osten und dann erneut in den Westen fuhren.
Äppelwoi und Wildwestromane
Endlich erreichten wir Bebra! Wir gingen sofort auf die Zugtoilette, ließen die Hosen runter und schnitten aus dem Zwickel der Unterhose die eingenähten 100 Mark Ost. Nun hatten wir Geld zum Tauschen und wir waren stolze Besitzer von etwa 20 Deutsche Mark. Und wir waren im Westen!
Natürlich wurden wir von den Verwandten meines Freundes Hermann sehr gut aufgenommen, bekamen schon am ersten Tag eine Stadtrundfahrt durch Frankfurt/Main mit einem Ford Taunus geboten. Die Leuchtreklamen in Frankfurt! So etwas waren wir nicht gewöhnt. Zum ersten Mal sahen wir Fernsehen. Die deutsche Nationalmannschaft hatte ja gerade eine Woche vorher in Bern die Fußballweltmeisterschaft gewonnen. In Geschäften standen im Schaufenster die kleinen Fernseher und draußen standen in Trauben die Zuschauer. Überhaupt war das für uns eine andere Welt. Es gab keine Lebensmittelkarten mehr (in der DDR wurden sie erst am 28. Mai 1958 abgeschafft), die Läden waren voller Waren, wie wir es nicht kannten.
Wir kauten Kaugummi, rauchten Eckstein, Overstolz und Nestor, schmökerten in den Wildwestromanen, tranken den „Äppelwoi“, fuhren viele Kilometer durch Hessen, zum Rhein/Main-Flughafen, zum Frankfurter Zoo, nach Neu-Isenburg und mit dem Reisebüro für 5 DM nach Rüdesheim.
Nach drei Wochen war unser schöner Ferienaufenthalt abgelaufen. Nachdem wir uns für die Fahrräder noch moderne Sportlenker gekauft hatten, ging es auf die Rückreise. Das Ziel war, die gesamte Strecke bis Zwickau-Reinsdorf mit dem Fahrrad zu bewältigen.
Es war der 27. Juli 1954. Die ersten 50 Kilometer schafften wir in zwei Stunden. Die Schlüchterner Berge waren die erste Hürde. Wir mussten uns quälen, denn eine Gangschaltung gab es für uns nicht an den Rädern. Als wir nachmittags endlich in Hünfeld waren, sahen wir uns nach einem Hotel um und übernachteten dort für 8 DM im Doppelzimmer. Abends gingen wir nochmals ins Kino. Der Film hieß „Krach im Hinterhaus“, wir hätten lieber einen Wildwestfilm gesehen. Am nächsten Tag sollte es über die Grenze gehen. Wir wollten die B 84 Richtung Eisenach nehmen. In Rasdorf machten wir noch eine kurze Rast. Ich kaufte für das letzte Geld bekannte Herztropfen für meine Großmutter. Auf der Straße in Richtung Grenze war es leer. Plötzlich pfiff es ganz laut hinter uns. Zwei dunkelblau gekleidete Uniformierte kamen gerannt. Es waren Zöllner oder Grenzer West. Nachdem wir befragt wurden, wo wir hinwollten, sagten sie uns, dass da oben kein Grenzübergang sei. Wir sollten aber trotzdem versuchen, hinüber zu kommen. Die Straße stieg an und plötzlich war sie unterbrochen. Ein geackerter und geeggter Abschnitt zog sich über die Felder und über die Straße B 84. Sonst war nichts. Das war also der „Eiserne Vorhang“im Jahre 1954. Einfach ein geackerter und geeggter etwa 10 bis 15 Meter breiter Landstrich, auf dem man jeden Fußabdruck und jede Radspur sehen konnte.
Dann kamen die Grenzer und nahmen uns fest
Da standen wir nun auf der „Westseite“und wussten nicht, wie wir uns verhalten sollten. Einfach hinüber und weiter radeln? Von einer Bewachung war nichts zu sehen. Wurden wir trotzdem beobachtet und schickte man uns vielleicht eine Kugel hinterher?
Nicht weit links oben begann der Wald. Mein Freund Hermann lief los und war „drüben“. Ich blieb mit den beiden Fahrrädern auf der Westseite. Nun pfiffen wir und machten uns bemerkbar. Hermann vom Osten aus und ich vom Westen. Wir haben uns nicht getraut, einfach loszufahren. Da, plötzlich links oben aus dem Wald kamen zwei erdbraune und bewaffnete Personen. Sind es Russen? Sind es Deutsche? Sie riefen uns aus einiger Entfernung etwas zu. Es waren Deutsche. Grenzer Ost. Bewaffnet mit je einem Karabiner K 98.
Sie nahmen meinen Freund fest und bedeuteten mir, ich soll „rüberkommen“, aber mit beiden Rädern. Unfreundlich waren sie nicht. Als ich nun über den Grenzstreifen ein Rad links, ein Rad rechts hinüber gewackelt war, nahm einer seinen Karabiner, lud durch und schoss in die Luft. Es knallte gewaltig und dauerte nicht allzu lange, da wurde vom Ort Buttlar aus mit einem Schuss erwidert. Die Grenzkameraden verständigten sich so: Zwei Personen wurden geschickt, um uns abzuholen.
Später gesellten sich zu uns noch zwei Grenzverletzer. Es waren Leipziger, die ebenfalls mit dem Fahrrad unterwegs waren. Wir standen unter Bewachung lange Zeit auf dem Hof eines Gebäudes, das offenbar als Gefechtsstand der Grenzkompanie diente. Es wurde Nachmittag, bis wir in das Gebäude durften und einzeln einem Offizier zum Verhör vorgeführt wurden. Er fragte nach dem Woher und Wohin und ob wir Kinder hätten. Dann wurde das Gepäck kontrolliert. Mein Freund und ich hatten auf dem Kofferboden Schundliteratur, wie das damals genannt wurde. Es waren die Groschenromane von Tom Brox, Billy Jenkins, Lore-Romane und DiamantRomane. Die Filzung war großzügig, man fand die Hefte nicht. Sie waren zur damaligen Zeit sehr begehrt unter den Jugendlichen der DDR.
Mit den Worten des Offiziers„Ich muss Ihnen leider eine Zelle anbieten“, war unser Aufenthalt in Buttlar gegen Abend beendet. Es fuhr ein LKW vor und wir vier Jungs wurden mit unseren Fahrrädern und einer bewaffneten Bewachung darauf verladen. Wohin es gehen sollte, verriet man uns nicht. Nach einigen Kilometern Fahrt ging es auf den Hof eines Gebäudes, das tatsächlich eine oder mehr Gefängniszellen hatte. Wie kamen zu viert in eine der Zellen mit einem kleinen vergitterten Fenster, darunter von Wand zu Wand eine schräge Bretterfläche, die als Liegefläche diente. Die Breite war 2,50 Meter und wir lagen zu viert hochkant und rutschten immer langsam von oben nach unten.
Nun brauchten wir etwas unter den Kopf. Wir klopften, erst Spionschau eines Grenzers, dann wurde geöffnet. Als „Kopfkissen“bekamen wir einige dicke Bücher gereicht. Es waren Bände von Marx, Engels, Lenin und Stalin. Da man uns unser Gepäck in die Zelle mitnehmen ließ, hatten wir auch einen Fotoapparat und machten ein Bild von unserem „Ferienaufenthalt“. Auf dem Hof standen zwei oder drei Holzhäuschen, die als Aborte dienten. Die Tür musste geöffnet bleiben und der Bewacher nahm sogar zur Sicherung sein Gewehr von der Schulter. Trotzdem waren wir bester Laune, wussten zwar nicht, wie lange wir in der Zelle „wohnen“sollten, aber hatten ja auch kein schlechtes Gewissen. Die Nacht verging auch. Am nächsten Morgen bekamen wir Frühstück mit Marmeladenbrot und Malzkaffee. Danach wurden wir wieder verladen und die Fahrt ging zu viert mit einem LKW und einem Grenzer wieder irgendwohin.
Am Ortsausgangsschild lasen wir, dass wir die Nacht in Geisa verbracht hatten. Jahrzehnte später wird hier auf dem Platz der Einheit die Gedenkstätte Point Alpha stehen. Wer konnte das damals in der Zeit des kalten Krieges auch nur ahnen!
Der begleitende Grenzsoldat rauchte zwar mit uns die Westzigaretten, verriet uns aber nicht das Ziel der Fahrt: das Volkspolizeikreisamt Bad Salzungen. Als wir später dort unseren Ausweis wieder erhielten, waren wir „frei“. Mit dem Rad fuhren wir nach Eisenach und von dort mit dem Zug nach Zwickau.
Epilog: Rückkehr zur nun offenen Grenze
Der Zufall wollte es, dass ich die Grenzöffnung am 9. November 1989 in der Bundesrepublik erlebte. Die Reisemöglichkeiten waren im Herbst 1989 nicht mehr ganz so streng und ich konnte, wenn auch mit etwas Trickserei, einen Studienfreund in Lüdenscheid besuchen. Wir haben die Pressekonferenz von Günter Schabowski zwar gesehen, aber nicht so übersetzt, dass man sofort ausreisen kann. Am 11. November war ich in Fulda, sah dort den Faschingsrummel und die vielen Tausend „DDR-Bürger“, die ihre 100 DM Begrüßungsgeld abholten. Was lag näher, als von Fulda über Hünfeld und Rasdorf noch einmal die Strecke abzufahren, die ich vor 35 Jahren mit meinem Freund Hermann gefahren war? Viele Menschen waren unterwegs. Kampfhubschrauber kreisten in diesem Gebiet. Ob sie auch aus Neugierde zur Grenze flogen?
Nach über 35 Jahren stand ich am Zaun. Die Grenze war vollkommen dicht im Gegensatz zu 1954. Ein massiver Drahtzaun mit einem Tor auf der Straße überspannte die gesamte Gegend. Daneben stand ein Wachturm und weiter links oben stand ein weiterer Wachturm. Der Wald, aus dem die Grenzer 1954 kamen, um uns festzunehmen, war nach hinten abgeholzt. Ein Beobachtungs- und Schussfeld war angelegt. Vor dem Zaun und dem Tor im Abstand von 30 Metern stand ein Grenzpfeiler in Schwarz-RotGold. Das war die Stelle, an der ich am 28. Juli 1954 festgenommen wurde.