Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)
Nahles und die abgesagte Revolution
Die SPD kämpft um ihre politische Zukunft, aber nicht gegen ihre Chefin. Und sie sucht Halt bei der Kernklientel – den Arbeitnehmern
Osnabrück. Andrea Nahles fällt Boris Pistorius um den Hals. „Schön, dass ich in deiner Heimatstadt bin“, sagt sie und lacht. Pistorius war viele Jahre Oberbürgermeister von Osnabrück. Jetzt ist er niedersächsischer Innenminister und läuft zufällig durch das Hotelfoyer, als die SPD-Vorsitzende am Mittwoch um 10.39 Uhr zur Klausur der Bundestagsabgeordneten aus Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen eintrifft. Das letzte Mal verschlug es Nahles vor fast zehn Jahren nach Osnabrück. Damals hatte der Cabrio-Spezialist Karmann Insolvenz angemeldet. Viele Jobs standen auf der Kippe. Nun muss die Parteiund Fraktionsvorsitzende um ihre eigene politische Zukunft kämpfen. Auch deshalb ist sie nach Osnabrück gekommen. Vor Weihnachten war in der Partei geraunt worden, beim Treffen der beiden mächtigen Landesverbände könne „etwas“passieren. Das zielte auf Nahles. Der Frust über den Zustand der SPD ist bei vielen Abgeordneten riesengroß. Nur noch 15 Prozent in den Umfragen, in Bayern Absturz in die Einstelligkeit, Nahles’ Patzer in der Affäre Maaßen. Die 48-Jährige, erst seit April des vergangenen Jahres an der Parteispitze, gilt für viele in der SPD bereits als eine Vorsitzende auf Abruf. So schnell und brutal kann Politik sein. Und wäre die Lage für Nahles vor der Europawahl nicht schon schwierig genug, erweckte die Selbstausrufung von Bundesfinanzminister Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten ante portas den Eindruck, die Maurerstochter aus der Eifel habe auf der Großbaustelle SPD irgendwie gar nichts mehr zu melden.
Nahles lacht das zunächst alles weg. Es ist ihr erster größerer öffentlicher Auftritt nach der Weihnachtspause. „Mir geht’s gut, ich bin gut erholt“, erzählt sie Pistorius. Über die Feiertage schaltete sie auf ihrem Bauernhof in der Vulkaneifel ab, genoss die Zeit mit ihrer Tochter. Nur die ständigen Anrufe nervten. Nahles Handynummer war mit dem Datenskandal im Netz gelandet. Der erste unbekannte Anrufer war ein Scherzkeks, meldete sich mit: „Martin Schulz“. Weniger lustig findet Nahles, dass ihre Adresse im Internet herumgeistert.
Aber was ist nun mit Scholz? Sie habe unverändert ein gutes Verhältnis zum Finanzminister, sagt Nahles vor Beginn der Sitzung. Allerdings sollten alle „öffentlich mehr über Politik und weniger über uns reden“. Das kann man als eine gewisse Zurechtweisung des selbstbewussten Vizekanzlers interpretieren. Wenig Begeisterung hat Nahles für die von vielen Führungskräften vorangetriebene Idee, den nächsten Kanzlerkandidaten durch die Mitglieder bestimmen zu lassen. „Ich komme da von einer skeptischen Grundhaltung.“Weil der Druck aus der Partei, die keine Hinterzimmerdeals mehr ertragen will, inzwischen so groß ist, kündigt Nahles an, eine „organisationspolitische Kommission“zur K-Frage werde am Wochenende ihre Arbeit aufnehmen.
Nahles räumt selbstkritisch ein, die „Grundmelodie“einer Politik für die arbeitende Mitte sei zuletzt nicht deutlich genug geworden. Das müsse im Superwahljahr 2019 besser werden. Dann verschwindet sie in den Saal, die Türen schließen sich. Das ist insofern bemerkenswert, da seit Dienstag die komplette Diskussion der rund 50 Abgeordneten aus NRW, Niedersachsen und Bremen öffentlich stattfand. Rund 30 Journalisten waren live dabei. Das gab es bei der SPD so noch nie. Einige reagierten mit Unverständnis, dass Nahles von diesem Prinzip abweicht. Sie verteidigt diese Entscheidung. Politik brauche auch geschützte Räume. Sie könne nicht in Osnabrück Gremien öffentlich tagen lassen, am Donnerstag und Freitag bei der großen Fraktionsklausur in Berlin aber wieder nicht. „Das ist nicht fair und nicht mit der Kleiderordnung vereinbar.“Drinnen läuft es dann friedlich ab. „Ich habe Klartext geredet, die haben Klartext geredet. Das war nicht konfrontativ“, so Nahles. Mehrere Abgeordnete kritisieren hinter verschlossenen Türen Stil und Zeitpunkt von Scholz’ Ankündigung. Nahles nimmt ihn in Schutz. Auf die Frage, ob er sich das Kanzleramt zutraue, hätte Scholz kaum anders reagieren können. Nach 90 Minuten ist die Osnabrück-Prüfung vorbei. „Die Revolution hat nicht stattgefunden“, verkündet Stephan Weil, der Ministerpräsident aus Hannover. Das ist ein interessanter Satz, weil man herauslesen kann, dass es Überlegungen gab. Weil wird für Höheres in Berlin gehandelt – falls die Partei ihn ruft.
Ansonsten zeigte sich die SPD sehr selbstkritisch. Eine Forderung war unüberhörbar: Die Partei möge den Blick wieder auf normale Arbeitnehmer richten und nicht von oben herab auf Menschen blicken. Allen voran forderte Ex-Parteichef Sigmar Gabriel, die von der SPD so bitter Enttäuschten zu umwerben. „Wir haben mit der Agenda 2010 und den Hartz-Reformen das erste Mal das Urvertrauen der Menschen in uns erschüttert. Jetzt, bei der Diskussion um die Elektromobilität und den Ausstieg aus der Braunkohle, haben viele Arbeitnehmer das zweite Mal den Eindruck, dass sie sich auf die SPD nicht mehr verlassen können“, sagte Gabriel. „Stolze Facharbeiter“, findet er, dürften nicht den Eindruck haben, die SPD stelle sie auf die falsche Seite der Geschichte. Handynummer ist im Netz gelandet