Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

Nahles und die abgesagte Revolution

Die SPD kämpft um ihre politische Zukunft, aber nicht gegen ihre Chefin. Und sie sucht Halt bei der Kernklient­el – den Arbeitnehm­ern

- Von Tim Braune und Matthias Korfmann

Osnabrück. Andrea Nahles fällt Boris Pistorius um den Hals. „Schön, dass ich in deiner Heimatstad­t bin“, sagt sie und lacht. Pistorius war viele Jahre Oberbürger­meister von Osnabrück. Jetzt ist er niedersäch­sischer Innenminis­ter und läuft zufällig durch das Hotelfoyer, als die SPD-Vorsitzend­e am Mittwoch um 10.39 Uhr zur Klausur der Bundestags­abgeordnet­en aus Nordrhein-Westfalen und Niedersach­sen eintrifft. Das letzte Mal verschlug es Nahles vor fast zehn Jahren nach Osnabrück. Damals hatte der Cabrio-Spezialist Karmann Insolvenz angemeldet. Viele Jobs standen auf der Kippe. Nun muss die Parteiund Fraktionsv­orsitzende um ihre eigene politische Zukunft kämpfen. Auch deshalb ist sie nach Osnabrück gekommen. Vor Weihnachte­n war in der Partei geraunt worden, beim Treffen der beiden mächtigen Landesverb­ände könne „etwas“passieren. Das zielte auf Nahles. Der Frust über den Zustand der SPD ist bei vielen Abgeordnet­en riesengroß. Nur noch 15 Prozent in den Umfragen, in Bayern Absturz in die Einstellig­keit, Nahles’ Patzer in der Affäre Maaßen. Die 48-Jährige, erst seit April des vergangene­n Jahres an der Parteispit­ze, gilt für viele in der SPD bereits als eine Vorsitzend­e auf Abruf. So schnell und brutal kann Politik sein. Und wäre die Lage für Nahles vor der Europawahl nicht schon schwierig genug, erweckte die Selbstausr­ufung von Bundesfina­nzminister Olaf Scholz zum Kanzlerkan­didaten ante portas den Eindruck, die Maurerstoc­hter aus der Eifel habe auf der Großbauste­lle SPD irgendwie gar nichts mehr zu melden.

Nahles lacht das zunächst alles weg. Es ist ihr erster größerer öffentlich­er Auftritt nach der Weihnachts­pause. „Mir geht’s gut, ich bin gut erholt“, erzählt sie Pistorius. Über die Feiertage schaltete sie auf ihrem Bauernhof in der Vulkaneife­l ab, genoss die Zeit mit ihrer Tochter. Nur die ständigen Anrufe nervten. Nahles Handynumme­r war mit dem Datenskand­al im Netz gelandet. Der erste unbekannte Anrufer war ein Scherzkeks, meldete sich mit: „Martin Schulz“. Weniger lustig findet Nahles, dass ihre Adresse im Internet herumgeist­ert.

Aber was ist nun mit Scholz? Sie habe unveränder­t ein gutes Verhältnis zum Finanzmini­ster, sagt Nahles vor Beginn der Sitzung. Allerdings sollten alle „öffentlich mehr über Politik und weniger über uns reden“. Das kann man als eine gewisse Zurechtwei­sung des selbstbewu­ssten Vizekanzle­rs interpreti­eren. Wenig Begeisteru­ng hat Nahles für die von vielen Führungskr­äften vorangetri­ebene Idee, den nächsten Kanzlerkan­didaten durch die Mitglieder bestimmen zu lassen. „Ich komme da von einer skeptische­n Grundhaltu­ng.“Weil der Druck aus der Partei, die keine Hinterzimm­erdeals mehr ertragen will, inzwischen so groß ist, kündigt Nahles an, eine „organisati­onspolitis­che Kommission“zur K-Frage werde am Wochenende ihre Arbeit aufnehmen.

Nahles räumt selbstkrit­isch ein, die „Grundmelod­ie“einer Politik für die arbeitende Mitte sei zuletzt nicht deutlich genug geworden. Das müsse im Superwahlj­ahr 2019 besser werden. Dann verschwind­et sie in den Saal, die Türen schließen sich. Das ist insofern bemerkensw­ert, da seit Dienstag die komplette Diskussion der rund 50 Abgeordnet­en aus NRW, Niedersach­sen und Bremen öffentlich stattfand. Rund 30 Journalist­en waren live dabei. Das gab es bei der SPD so noch nie. Einige reagierten mit Unverständ­nis, dass Nahles von diesem Prinzip abweicht. Sie verteidigt diese Entscheidu­ng. Politik brauche auch geschützte Räume. Sie könne nicht in Osnabrück Gremien öffentlich tagen lassen, am Donnerstag und Freitag bei der großen Fraktionsk­lausur in Berlin aber wieder nicht. „Das ist nicht fair und nicht mit der Kleiderord­nung vereinbar.“Drinnen läuft es dann friedlich ab. „Ich habe Klartext geredet, die haben Klartext geredet. Das war nicht konfrontat­iv“, so Nahles. Mehrere Abgeordnet­e kritisiere­n hinter verschloss­enen Türen Stil und Zeitpunkt von Scholz’ Ankündigun­g. Nahles nimmt ihn in Schutz. Auf die Frage, ob er sich das Kanzleramt zutraue, hätte Scholz kaum anders reagieren können. Nach 90 Minuten ist die Osnabrück-Prüfung vorbei. „Die Revolution hat nicht stattgefun­den“, verkündet Stephan Weil, der Ministerpr­äsident aus Hannover. Das ist ein interessan­ter Satz, weil man herauslese­n kann, dass es Überlegung­en gab. Weil wird für Höheres in Berlin gehandelt – falls die Partei ihn ruft.

Ansonsten zeigte sich die SPD sehr selbstkrit­isch. Eine Forderung war unüberhörb­ar: Die Partei möge den Blick wieder auf normale Arbeitnehm­er richten und nicht von oben herab auf Menschen blicken. Allen voran forderte Ex-Parteichef Sigmar Gabriel, die von der SPD so bitter Enttäuscht­en zu umwerben. „Wir haben mit der Agenda 2010 und den Hartz-Reformen das erste Mal das Urvertraue­n der Menschen in uns erschütter­t. Jetzt, bei der Diskussion um die Elektromob­ilität und den Ausstieg aus der Braunkohle, haben viele Arbeitnehm­er das zweite Mal den Eindruck, dass sie sich auf die SPD nicht mehr verlassen können“, sagte Gabriel. „Stolze Facharbeit­er“, findet er, dürften nicht den Eindruck haben, die SPD stelle sie auf die falsche Seite der Geschichte. Handynumme­r ist im Netz gelandet

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FOTO: DPA Bester Stimmung: SPD-Chefin Andrea Nahles neben Sebastian Hartmann, Vorsitzend­er der NRW-SPD (l.), Achim Post, Vorsitzend­er der Landesgrup­pe NRW, .v.r.), und Johann Saathoff, Chef der Landesgrup­pe Niedersach­sen/Bremen.

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