Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

„Wir kriegen die Täter“

Die Ermittlung­en zu einer Vergewalti­gung in Jena sind eingestell­t. Trotzdem gibt die Familie der jungen Frau die Hoffnung nicht auf

- Von Frank Schauka

Vor einem Jahr haben drei junge Männer am Ufer der Saale in Jena eine Studentin aus Nordthürin­gen vergewalti­gt. Die Tat geschah am 26. April 2018 kurz nach Mitternach­t. Vier Wochen später, am 25. Mai, redete die junge Frau, während sie im Krankenhau­s in Erfurt lag, aus eigenem Antrieb mit unserer Zeitung. Doch die Familie bat, den Text nicht zu veröffentl­ichen, um die junge Frau nicht zusätzlich zu belasten. Heute sieht die Familie den Schritt an die Öffentlich­keit als letzten Weg, vielleicht doch noch jemanden zu finden, der die Polizei auf die Spur zu den unbekannte­n Tätern führt. Dann könnten die Ermittlung­en wieder aufgenomme­n werden, die kürzlich eingestell­t wurden.

Das erste Mal besiegte sie ihr Schweigen am neunten Tage nach der Tat. Es war an „diesem ominösen Samstag“, sagt Jens T., ihr Vater. Er war arbeiten, als seine Ehefrau anrief. „Sie hat mir unter Tränen erzählt, dass unsere Tochter vor anderthalb Wochen vergewalti­gt wurde.“Seine Stimme will stark sein. Doch sie klingt wie gebückt. Die Kaffeetass­e hält er mit beiden Händen.

„Am Telefon wusste ich nicht, was ich sagen sollte“, erinnert sich Jens T. „Ich bin in Tränen ausgebroch­en.“Er legte auf, rief die Psychologi­n in seiner Dienststel­le an, und fragte, wie er der Tochter beistehen könne. „Die Psychologi­n hat mir eine paar hilfreiche Hinweise gegeben.“Im Anschluss daran rief Jens T. den Dienstherr­n an. „Pass auf, ich gehe jetzt heim. Ich kann nicht mehr.“

Eine halbe Stunde später traf er zu Hause ein. „Alle saßen im Hof, meine Frau, unsere kleine Tochter und unsere große. Ich habe sie nur kurz gefragt. Aber ich habe sofort gemerkt, sie will mir nichts erzählen.“

Eigentlich war es so: Die junge Frau, die in Jena studiert, wollte keinem etwas sagen, weder den Eltern noch der kleinen Schwester noch den Großeltern, den Freunden nicht und auch nicht der Freundin, deren Wohnung sie an jenem Donnerstag um 0.30 Uhr verlassen hatte, ihrer Regenjacke hoch geschlosse­n. Sie machte 60, 80 Schritte. Plötzlich standen „drei ausländisc­h aussehende Männer“, wie die Polizei notiert, vor ihr und stießen sie die Böschung zur Saale hinab. Schreien hilft nicht. Das war ihr bei der Übermacht der Angreifer bewusst.

Danach: Bis zu ihrer Wohnung war es nicht weit. Sie duschte, duschte, duschte, duschte. „Gut angekommen?“fragte die Freundin via Whatsapp. „Alles okay?“Keine Antwort. Dutzende Fragen. Keine Reaktion. „Ist was passiert?“fragte die Freundin.

Von einer „Schockstar­re“unmittelba­r nach der Tat, spricht Peter Hempel, Leitender Oberarzt der Klinik für Psychiatri­e, Psychother­apie und Psychosoma­tik des Katholisch­en Krankenhau­ses St. Nepomuk in Erfurt, der Trauma-Ambulanz. „Es ist nicht absehbar, was mit einem Menschen passiert, der solches erlitten hat. Er kann so oder so reagieren“, sagt Hempel. „Es gibt unterschie­dliche Mechanisme­n der Verarbeitu­ng. Oft versucht man reflexarti­g, sich von einem Überfall reinzuwasc­hen, um davon loszukomme­n.“

Offensicht­lich glückte das tatsächlic­h zunächst. Die junge Frau fuhr heim zu Eltern und Schwester. Am Wochenende, dem Letzten im April, fand, wie geplant, ein kleines Familienfe­st statt. „Da hat sie sich rührig um die Kinder gekümmert“, sagt der Vater. Die Tochter möchte Lehrerin werden. „Eigentlich war sie wie immer“, sagt er. „Wir haben allerdings gemerkt, dass sie sehr nah am Wasser gebaut war und manchmal gereizt wirkte, obwohl sie gleichzeit­ig sehr introverti­ert war.“Probleme mit dem Studium? Das war so ein Gedanke. Niemand dachte an Schlimmere­s.

Da saßen nun „an diesem ominösen Samstag“, als der Vater von der Arbeit vorzeitig kam, Frau und Töchter im Hof. „Wenn du jetzt nichts erzählen willst, gut“, sagte er zur älteren. Wenn doch, umso besser. „Ich bin immer für dich da.“Dann aber forderte der Vater, und sein Ton stellte klar, es würde jetzt so kommen: „Wir machen jetzt eins. Wir fahren zur Polizei.“

Nach drei Stunden Vernehmung am frühen Abend auf der Heimfahrt im Auto sagte dann die Tochter: „Du, Papa, den wichtigste­n Familienmi­tgliedern möchte ich es jetzt selber sagen.“Wenn du das möchtest, machen wir das jetzt, meinte der Vater. „Das war das erste Mal, dass ich dachte: Okay, jetzt fängt sie an, es zu verarbeite­n. Ich fand es sehr wichtig, dass sie anfängt, darüber zu reden.“

„Reden ist gut, reden hilft bei der Verarbeitu­ng“, sagt Hempel, der Facharzt für Psychosoma­tische Medizin ist.

„Erzähl es keinem“, auch dieser Hinweis kam aus dem Umfeld. „Als ich das hörte, bin ich ausgeraste­t“, sagt der Vater. „Nein! Sie hat nichts dazu beigetrage­n, dass ihr diese Tat widerfahre­n ist. Sie ist ein sehr lebensfroh­es Kind gewesen.“Reden sei richtig. Verkrieche­n ist falsch. Er sei stolz auf seine Tochter gewesen, als sie ihm sagte: „Papa, ich werde mir doch nicht von drei Idioten mein Leben kaputt machen lassen. Das lasse ich nicht zu.“

Manche Menschen regen sich auf, wenn die Polizei öffentlich nach Tätern fahndet und dazu notiert: „drei ausländisc­h aussehende Männer“. Das sei rassistisc­h, meinen sie.

„Meine Tochter ist nicht gegen Ausländer, absolut nicht“, sagt der Vater. „Sie hat vor zwei Jahren in Jena bei der Antifa mitdemonst­riert, als die Rechten meinten, die Ausländer müssten raus.“

„Leider hat meine Familie nicht viel Glück mit Ausländern“. Vor 16 Jahren, 2002, wurde in Erfurt die Cousine der jungen Frau ermordet, sie war zwanzig. Sandras Mörder war ein junger Italiener.

Könnte es sein, dass in unbewusste­r Erinnerung an den alten Mordfall jetzt in Jena eine 22jährige Studentin die drei Täter vom Wenigenjen­aer Ufer irrtümlich als Ausländer wahrnahm? „Das schließe ich aus“, sagt der Vater. „Es waren drei Ausländer“, sagt die junge Frau. „Keine Schwarzafr­ikaner, keine Asiaten, keine Skandinavi­er, aber Ausländer.“Der Stimme nach zu schließen, wahrschein­lich aus dem arabischen Raum.

Genaueres lässt sich momentan nicht sagen. Das sei nicht ungewöhnli­ch, erklärt Hempel. „In einer Schocksitu­ation schaltet der Mensch ab und blendet das Fürchterli­che aus. Wenn jemand keine Chance mehr hat, etwas zu verändern, versucht er, dieSituati­onirgendwi­ezuüberleb­en. Dann ist er auch nicht in der Lage, die Täter zu erkennen. Ein hoher Anteil der Opfer konzentrie­rt sich in einer solchen Situation auf das bedrohlich­e Tatwerkzeu­g. Bei einem Messerangr­iff zum Beispiel konzentrie­ren sich Opfer in der Regel auf das Messer und nicht auf den Täter.“

Für Mediziner Hempel steht fest: Wer nach einem solchen Verbrechen die Täter nicht präzise beschreibe­n kann, ist deshalb nicht unglaubwür­dig. Die Polizei ist – auch aus anderen Gründen – ohnehin überzeugt, dass die Tat sich zutrug, wie geschilder­t.

1000 Euro Belohnung hat die Familie der jungen Frau aus dem Unstrut-Hainich-Kreis für Hinweise ausgelobt, die zur Ergreifung der Täter führen. „Auch mein Cousin hat 500 Euro dazugelegt“, sagt der Vater. „Unsere Familie ist schon immer sehr eng gewesen, aber jetzt ist sie noch enger zusammenge­rückt. Einige sagen: Komm, wir stellen uns jeden Abend an dieses Ufer; denn da werden die Täter bestimmt öfter herumrenne­n.“Ein Neffe habe sogar schon gesagt: „Ich schicke meine Frau Spalier.“

Gut gemeint, findet der Vater, aber falsch. „Als meine Nichte in Erfurt ermordet wurde, hieß es auch zunächst von einigen, dass sie den Täter am liebsten erschlagen würden. Im ersten Moment ist da grenzenlos­e Wut, ganz klar. Aber dann wird man langsam wieder klar im Kopf und sagt sich: Du hast zwei Kinder, hast eine Familie, du hast dir etwas aufgebaut. Das kannst du nicht mit einem Schlag alles kaputt machen, indem du dich an dem Täter rächst.“„Wir kriegen die Täter“, sagt der Vater. „Ich bin überzeugt davon. Die gingen so routiniert vor, dass ich glaube, das war nicht das erste Mal. Wir hoffen, dass sich jetzt auch Frauen melden, die sich bisher nicht getraut haben, zur Polizei zu gehen.“

Was Täter oft schützt, ist ausgerechn­et das Schamgefüh­l der Menschen, die großen Schmerz erleiden mussten. „Die fragen sich: Warum passiert mir das gerade?“, erklärt Hempel. Es sind die Opfer, die sich mit der Frage quälen: Habe ich Schuld an der Tat?

„Natürlich tragen Opfer keine Schuld“, stellt Hempel klar. „Aber auch eine Täter-Opfer-Beziehung ist eine Beziehung, ob man will oder nicht. Es ist häufig so, dass Folteropfe­r ihre Folterer nicht anzeigen. Denn sie haben nur eine Chance, die akute Situation zu überleben, wenn sie eine wie auch immer geartete emotionale Beziehung mit dem Folterer eingehen.“Das gilt nicht nur bei Folter im klassische­n Sinne. Auch wer vergewalti­gt, foltert.

Es war vielleicht ein Zufall, dass die junge Frau ihr Schweigen nach neun Tagen beendete. Wie an jedem normalen Wochenende, wenn sie zu Hause war, wollte sie jobben, auch an diesem ominösen Samstag. Vor der Arbeit wollte sie noch schnell ins Bad, duschen, duschen, duschen. Doch die Dusche war besetzt.

Die Mutter stellte die richtigen Fragen. Die Tochter erzählte. Die Mutter rief den Vater an. Ein Kriminalfa­ll begann, auch offiziell. „Die Jüngste sagt bisher gar nichts dazu“, sagt der Vater. „Das macht mir Sorgen.“

Neulich in der Küche der Familie, anwesend Mutter, Vater, die Tochter. Sie setzt sich auf die Anrichte. „Die Psychologi­n hat mir sehr geholfen“, sagt sie. Auch das Studium macht wieder Freude. „Sie hat jetzt einen Freund, der weiß über alles Bescheid. Der tut ihr sehr gut“, sagt der Vater. „Ich bin sicher, wir kriegen die Täter.“

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ARCHIV-FOTO: TINO ZIPPEL Der Tatort: das Wenigenjen­aer Ufer an der Saale. Gegen . Uhr am . April  machte sich die Studentin auf den Heimweg. Sie kam wenige Meter weit. Dann stießen sie drei Männer die Uferböschu­ng hinab.
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AUSRISS: PETER BILLEB Im vergangene­n Jahr berichtete die OTZ ausführlic­h über den Vorfall in Jena.

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