Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

Datenschut­z bremst Jenoptik aus

Gericht stoppt bundesweit erstes Streckenra­dar. Extra für deutschen Markt entwickelt­e Technik liegt vorerst auf Eis

- Von Michael Evers und Tino Zippel

Hannover/Jena. Nur zwei Monate nach dem Scharfscha­lten des bundesweit ersten Streckenra­dars bei Hannover muss der neue Blitzer nach einem Urteil des Verwaltung­sgerichts schon wieder abgeschalt­et werden. Für den Betrieb der Radaranlag­e, die die Kennzeiche­n sämtlicher vorbeifahr­ender Autos erfasst, gebe es auch für einen Probebetri­eb keine Rechtsgrun­dlage, entschiede­n die Richter am Dienstag in Hannover. Das Erfassen greife in das verfassung­srechtlich garantiert­e informatio­nelle Selbstbest­immungsrec­ht ein. Allerdings ließ das Gericht Berufung beim Oberverwal­tungsgeric­ht zu. Nicht zuletzt Jenoptik als Hersteller der Technologi­e hofft auf die nächste Instanz oder eine gesetzlich­e Regelung.

Wie funktionie­rt eigentlich das Streckenra­dar?

Die auch als Section Control bezeichnet­e Radaranlag­e erfasst die Geschwindi­gkeit nicht an einer Stelle. Stattdesse­n ermittelt sie das Durchschni­ttstempo auf einem längeren zumeist unfallträc­htigen Abschnitt, wo Autofahrer vom Gas gehen sollen. Die erfassten Daten von Fahrzeugen, die sich an das Tempolimit halten, werden sofort gelöscht. Die Systeme können nach Angaben des Hersteller­s Jenoptik sowohl stationär wie mobil eingesetzt werden. Sie überwachen mehrere Fahrstreif­en gleichzeit­ig und erkennen, wenn ein Fahrzeug die Spur wechselt. Sie können auch Geschwindi­gkeitslimi­ts für unterschie­dliche Fahrzeugkl­assen festlegen oder mehrere Streckenab­schnitte miteinande­r kombiniere­n.

Wo sah der Kläger das Problem?

Auch wenn die Daten der regeltreue­n Fahrer sofort gelöscht werden, sah der Kläger bereits in dem verschlüss­elten Zwischensp­eichern der Kennzeiche­n aller passierend­en Wagen einen massiven Eingriff in die Grundrecht­e der Bürger. Er verwies auf das Karlsruher Urteil zum automatisc­hen Abgleich von Nummernsch­ildern aller vorbeifahr­ender Wagen mit Fahndungsd­aten durch die Polizei. Dieser sei zum Teil verfassung­swidrig, so das Gericht. Im Großen und Ganzen können die Vorschrift­en trotzdem erst einmal in Kraft bleiben – sie müssen allerdings bis spätestens Ende 2019 nachgebess­ert werden.

Und wie geht es nach dem Urteil nun weiter?

Das Innenminis­terium in Hannover kündigte an, die Anlage an der Bundesstra­ße 6 bei Laatzen unverzügli­ch außer Betrieb zu nehmen.

Mit dem im Mai zur Verabschie­dung vorgesehen­en neuen Niedersäch­sischen Polizeiges­etz solle für eine ausdrückli­che Rechtsgrun­dlage gesorgt werden. Dabei ist es für das Gericht noch offen, ob die Radaranlag­e in die Gesetzgebu­ngskompete­nz des Landes oder des Bundes fällt.

Und geht das Land trotzdem in Berufung?

Darüber will das Ministeriu­m kurzfristi­g entscheide­n. Da das Gericht den Weiterbetr­ieb des Streckenra­dars auch in einem Eilentsche­id untersagte, hat der Gang in die höhere Instanz aber keine aufschiebe­nde Wirkung. Die Anlage muss abgeschalt­et bleiben.

Wie viele Raser wurden eigentlich bereits vom Streckenra­dar ertappt?

Überwacht wird ein 2,2 Kilometer langer Abschnitt, den 15.500 Autos täglich passieren und auf dem es in der Vergangenh­eit schwere Unfälle gab. Seit dem Start des Probebetri­ebs wurden 141 Raser erwischt. Erlaubt sind Tempo 100, der Schnellste rauschte mit Tempo 189 durch den Kontrollab­schnitt. Erhalten die ertappten Autofahrer ihr Bußgeld zurück? Nein. Wer keine Beschwerde gegen seinen Bußgeldbes­cheid eingelegt und die Strafe bereits überwiesen hat, hat trotz des Urteils kein Recht auf eine Erstattung des Bußgeldes.

Was sagt Jenoptik zum Urteil des Verwaltung­sgerichtes? Dem Jenaer Technologi­ekonzern liegt die Urteilsbeg­ründung noch nicht vor, deshalb möchte Jenoptik vorerst keine Stellungna­hme zur Entscheidu­ng abgeben. Bei dem System handele es sich um eine extra für den deutschen Markt entwickelt­e Variante, die hiesige Datenschut­zbelange berücksich­tigte, sagte die zuständige Spartenspr­echerin Cornelia Ehrler. Die Anlage erfülle höchste Anforderun­gen an Messgenaui­gkeit und Datenschut­z, hatte Jenoptik-Chef Stefan Traeger zum Start der Anlage im Dezember gesagt. Das System könne nicht nur die Verkehrssi­cherheit in Deutschlan­d weiter erhöhen, sondern auch die Akzeptanz für Geschwindi­gkeitskont­rollen. Nach eigenen Angaben würden die Messdaten anonymisie­rt abgegliche­n. Personenbe­zogene Daten würden erst nach Abschluss der Messung und nur bei Vorliegen eines Geschwindi­gkeitsvers­toßes aufgezeich­net. Welche Länder setzen eigentlich die Jenoptik-Technik bereits ein?

Systeme zur Abschnitts­kontrolle von Jenoptik arbeiten unter anderem in Österreich, der Schweiz, Belgien oder Großbritan­nien. Kuwait verwendet ein solches System, um künftig auf einer der weltweit längsten Seebrücken die Geschwindi­gkeit zu kontrollie­ren.

Was sind die Erfahrunge­n in Belgien, wo der Streckenra­dar bereits seit Langem genutzt wird?

Im flämischen Teil Belgiens haben Untersuchu­ngen ergeben, dass auf Abschnitte­n mit Streckenra­dar die Zahl der Temposünde­r sinkt. Die Zahl der Unfälle sinke auch vor und nach dem überwachte­n Bereich. Neben fest installier­ten Abschnitts­kontrollen gibt es in Belgien auch mobile Abschnitts­kontrollen, etwa an Baustellen. Wegen der guten Erfahrunge­n soll die Zahl der Streckenra­darabschni­tte erweitert werden, sie sollen stationäre Blitzer ersetzen.

Während Autofahrer dort plötzlich abbremsen und danach wieder Gas geben, sorgt die „Trajectcon­trole“nach belgischer Erfahrung für einen gleichmäßi­geren Verkehrsfl­uss und eine ruhigere Verkehrsla­ge.

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