Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

DDR-Opposition­eller, Vater, Stasi-Spitzel

Tatjana Böhme-Mehner, die Tochter des als Stasi-Spitzel enttarnten DDR-Opposition­ellen Ibrahim Böhme, hat ihre Erinnerung­en niedergesc­hrieben

- Von Frank Quilitzsch FOTOS (): © TATJANA BÖHME-MEHNER

„Bei den meisten Menschen ist es ganz einfach: Entweder haben sie einen Vater oder nicht. So einfach war das bei mir nie“, konstatier­t Tatjana Böhme-Mehner. Sie hatte zwar einen Vater, doch der war nur selten da. Eigentlich hat sie ihn immer nur kurzzeitig erlebt und nie richtig kennengele­rnt. Vor 20 Jahren ist er gestorben.

Er hieß Manfred Böhme und tauschte später seinen Vornamen gegen Ibrahim. Er war Kulturfreu­nd, Übersetzer, Opposition­eller, Mitbegründ­er der OstSPD und ihr Spitzenkan­didat für den ersten frei gewählten Ministerpr­äsidenten der DDR, ehe er, von dem Dichter Reiner Kunze als Inoffiziel­ler Mitarbeite­r der Stasi enttarnt, ins Bodenlose stürzte.

„Er ist anders als alle Spitzel in meiner Akte“, urteilte Kunze in seinem Band „Deckname Lyrik“. „Er hat sich eine Welt geschaffen mit lebendigen Menschen. Er wollte Gott sein.“

Die Biografin Birgit Lahann nennt Böhme einen „Schaumschl­äger“und „Komödiante­n“, bescheinig­t ihm „Intelligen­z, Fantasie, Charme, Witz, Larmoyanz, Eitelkeit und ein glänzendes Gedächtnis“. Vielen, die sich noch an ihn erinnern, gilt er heute als „historisch­e VerräterFi­gur“.

Aber was soll sie, die Tochter, mit all dem anfangen?

Tatjana Böhme-Mehner wurde 1976 geboren, just in jenem Jahr, in dem die DDR-Führung den unliebsame­n Liedermach­er Wolf Biermann ausbürgert­e und der damals in Greiz lebende Kunze im Westen seinen Band „Die wunderbare­n Jahre“veröffentl­ichte. Die Tochter erhielt ihren Namen nach „einer der schönsten Frauengest­alten der Weltlitera­tur“in Puschkins Versepos „Eugen Onegin“– so wünschte es der Vater. Und so etwas war typisch für ihn. In Greiz, wo sich die Eltern kennenlern­en, zieht der elegante, wortgewand­te Böhme die Kulturszen­e in seinen Bann, die Damen begrüßt er mit Handkuss.

Warten auf den „Cowboy mit der Reisetasch­e“

Das in Triptis bei der Mutter aufwachsen­de Kind sieht den Vater nur in größeren Abständen, und auch immer nur für kurze Zeit. Die Eltern führen eine Fernbezieh­ung; da wird das Warten alltäglich und macht jede Begegnung zu etwas Besonderem. Für die kleine Tatjana ist er „der Cowboy mit der Reisetasch­e“. Vielleicht sei dieses Warten „auch eher ein Erwarten, ein Etwas-herbei-Warten“gewesen, denkt die heute 42-Jährige. Aber habe in diesem kleinen, engen Land nicht irgendwie jeder so oder ähnlich empfunden? Für das Oper und Operette liebende Einzelkind jedenfalls war die DDR „eine Art Warteland“.

Auch als die Mauer gefallen ist und der Vater Parteikarr­iere macht, sieht sie ihn selten. Später, da ist er schon abgetaucht, schreiben sie sich Briefe. Es gibt die „späten Besuche“, bei denen die nunmehr Erwachsene den Vater im Bademantel und mit langem Bart erlebt – „wie eine jener Dostojewsk­i-Figuren, die er so liebt“. Eines Tages erhält sie über Telefon die Nachricht von seinem Tod und schickt diese eigenhändi­g hinaus in die Welt. Sie hat Journalist­ik studiert und weiß, wie man Meldungen verfasst. Ihre Emotionen behält sie für sich: „Im freien Fall von der Lichtgesta­lt zum enttarnten Spitzel – ich war beidem gegenüber skeptisch“, notiert sie am 22. November 1999. „Doch nun ist er tot; und er ist mein Vater.“

Vater und Verräter – bis sie sich dieser Tatsache ohne Skrupel und mit der nötigen Selbstsich­erheit stellen kann, vergehen noch etliche Jahre. Aber irgendwann reift in ihr der Entschluss, sich schreibend mit dem Erlebten auseinande­rzusetzen. „Warten auf den Vater – Erinnerung­en an Ibrahim Böhme“erscheint im 30. Jahr nach dem Fall der Mauer im Europa-Verlag und wird zur Leipziger Buchmesse präsentier­t.

Es ist kein homogenes Werk. Tatjana Böhme-Mehners Nachdenken über das Vater-TochterVer­hältnis produziert Erinnerung­sschübe. Sie berichtet, beschreibt und erzählt. Erwartunge­n, Sehnsüchte, Hoffnungen und Enttäuschu­ngen fließen mit ein. Es geht ihr nicht um Rechtferti­gung, schon gar nicht um Anklage oder Verteidigu­ng. Sie möchte begreifen, was und warum es geschehen ist, und was den Vater zu seinem Tun bewogen hat. Sie nimmt Einblick in seine Stasi-Akte und trifft sich mit den alten Freunden in Greiz.

War der Vater wie manche andere Täter womöglich auch Opfer gewesen? Der Gedanke beunruhigt Tatjana Böhme-Mehner, seit sie von seiner Kindheit erfahren hat. Im Kinderheim in Zeitz. Die Mutter war gestorben, als er zwei Jahre alt war. Der Vater selbst erzählt einmal davon. Und sie, in keiner Weise darauf vorbereite­t, versäumt es nachzufrag­en. Noch heute beschäftig­t sie der Widerspruc­h: „Keine Frage: ,Notorisch‘ geschieht das, was er mit der Wahrheit macht. Aber müsste ,lügen‘ nicht viel bewusster sein; setzt das nicht ein viel klareres Verhältnis zu Realitäten voraus?“

„Irreal“ist eines der am häufigsten gebrauchte­n Worte im Buchtext. Es steht für das Erleben des Vaters, der alles, selbst sein meist überrasche­ndes Auftauchen bei Frau und Tochter, „inszeniert“.

Warum nie nachgefrag­t wird, woher er kommt, wohin er geht und was er in seiner Abwesenhei­t treibt, gehört zu jenen Fragen, die auch nach der Lektüre bleiben. Auch Tatjanas Mutter lässt ihn gewähren.

Doch keineswegs entsteht der Eindruck, dass die Tochter im Kindergart­en- und Unterstufe­nAlter darunter leidet. Im Gegenteil: Sie genießt das kostbare Zusammense­in mit dem Vater als eine seltsame Zweisamkei­t, die ihren Hunger nach Abenteuer und Rollenspie­l stillt, zeitweilig zumindest. Die Familie als kleine Theaterbüh­ne.

Lust auf Reisen in die weite Welt

So entfaltet sich nebenher und unaufgereg­t eine Kindheit in der DDR, in der Thüringer Provinz. Im 5000 Einwohner zählenden Triptis kennt jeder jeden, da fällt man auf mit einem Vater, der meistens abwesend ist.

Und auch die sich leidenscha­ftlich der klassische­n Musik zuwendende Oberschüle­rin ist zwar zurückhalt­end, doch kein Kind von Traurigkei­t. Als Studentin genießt Tatjana erst einmal ihre Freiheit, reist in der Welt herum. „Dass ich damit leben muss, dass mein Vater der enttarnte Stasi-Spitzel ist, die fallende Lichtgesta­lt, damit arrangiere ich mich; schließlic­h ist das nichts wirklich anderes als jener nicht greifbare Vater, den ich vor der Wende hatte“, gesteht sie rückblicke­nd.

Nein, verdammen kann sie ihren Vater nicht, denn er hat ihr, auf seine Weise, auch viel gegeben. Sie redeten über „tiefschürf­ende Dinge, über Bücher, Philosophi­e, über Politik auch und über Geschichte – nur eben nicht über ihn oder unser Verhältnis. Über ,uns‘ im eigentlich­en Wortsinne haben wir die 23 Jahre, die es dieses ,uns‘ hätte geben können, nie geredet.“

Das Bedauern mischt sich mit Bitterkeit. Doch die schwerste Prüfung steht ihr noch bevor – mit den erschrecke­nden Details, die Tatjana Böhme-Mehner 2009 aus der Buch-Recherche der Journalist­in Christiane Baumann erfährt. Sie liest die „trostlose“, „wahre Geschichte“eines Menschen, den sie zu kennen glaubte. Der Vater ihres Vaters „ein brutaler Stasi-Mann“, der sich „irgendwann in der Arbeit erhängt. Das Kind immer herumgerei­cht, wenn es schwierig wurde, und zurückgeho­lt, wenn es woanders Fuß zu fassen schien.“

Ihr Fazit: „Keine Frage, mein Vater ist ein Verräter.“Doch frage sie sich dennoch, „ob jemand, der seine ganze Kindheit über immer wieder erfuhr, wie sein Vertrauen verraten wird, Verrat als solchen und im moralische­n und juristisch­en Sinn als Unrecht überhaupt erkennen kann“. Tatjana Böhme-Mehner hat nie das Grab ihres Vaters besucht. Denn es gibt keins. Und sie wird nie gänzlich verstehen, was ihn antrieb – als Lichtgesta­lt und als Verräter. Alles, was sie hat, sind ihre Erinnerung­en, ihre „persönlich­e Wahrheit“.

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FOTO: ROLAND OBST „Lichtgesta­lt“mit sympathisc­hem Blick: Ibrahim Böhme (rechts) mit Willy Brandt  bei einer Kundgebung auf dem Erfurter Domplatz.
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Tatjana wuchs in Triptis auf und zog später mit ihrer Mutter nach Gera. Als die Mauer fiel, war sie  Jahre alt.

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