Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)
DDR-Oppositioneller, Vater, Stasi-Spitzel
Tatjana Böhme-Mehner, die Tochter des als Stasi-Spitzel enttarnten DDR-Oppositionellen Ibrahim Böhme, hat ihre Erinnerungen niedergeschrieben
„Bei den meisten Menschen ist es ganz einfach: Entweder haben sie einen Vater oder nicht. So einfach war das bei mir nie“, konstatiert Tatjana Böhme-Mehner. Sie hatte zwar einen Vater, doch der war nur selten da. Eigentlich hat sie ihn immer nur kurzzeitig erlebt und nie richtig kennengelernt. Vor 20 Jahren ist er gestorben.
Er hieß Manfred Böhme und tauschte später seinen Vornamen gegen Ibrahim. Er war Kulturfreund, Übersetzer, Oppositioneller, Mitbegründer der OstSPD und ihr Spitzenkandidat für den ersten frei gewählten Ministerpräsidenten der DDR, ehe er, von dem Dichter Reiner Kunze als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi enttarnt, ins Bodenlose stürzte.
„Er ist anders als alle Spitzel in meiner Akte“, urteilte Kunze in seinem Band „Deckname Lyrik“. „Er hat sich eine Welt geschaffen mit lebendigen Menschen. Er wollte Gott sein.“
Die Biografin Birgit Lahann nennt Böhme einen „Schaumschläger“und „Komödianten“, bescheinigt ihm „Intelligenz, Fantasie, Charme, Witz, Larmoyanz, Eitelkeit und ein glänzendes Gedächtnis“. Vielen, die sich noch an ihn erinnern, gilt er heute als „historische VerräterFigur“.
Aber was soll sie, die Tochter, mit all dem anfangen?
Tatjana Böhme-Mehner wurde 1976 geboren, just in jenem Jahr, in dem die DDR-Führung den unliebsamen Liedermacher Wolf Biermann ausbürgerte und der damals in Greiz lebende Kunze im Westen seinen Band „Die wunderbaren Jahre“veröffentlichte. Die Tochter erhielt ihren Namen nach „einer der schönsten Frauengestalten der Weltliteratur“in Puschkins Versepos „Eugen Onegin“– so wünschte es der Vater. Und so etwas war typisch für ihn. In Greiz, wo sich die Eltern kennenlernen, zieht der elegante, wortgewandte Böhme die Kulturszene in seinen Bann, die Damen begrüßt er mit Handkuss.
Warten auf den „Cowboy mit der Reisetasche“
Das in Triptis bei der Mutter aufwachsende Kind sieht den Vater nur in größeren Abständen, und auch immer nur für kurze Zeit. Die Eltern führen eine Fernbeziehung; da wird das Warten alltäglich und macht jede Begegnung zu etwas Besonderem. Für die kleine Tatjana ist er „der Cowboy mit der Reisetasche“. Vielleicht sei dieses Warten „auch eher ein Erwarten, ein Etwas-herbei-Warten“gewesen, denkt die heute 42-Jährige. Aber habe in diesem kleinen, engen Land nicht irgendwie jeder so oder ähnlich empfunden? Für das Oper und Operette liebende Einzelkind jedenfalls war die DDR „eine Art Warteland“.
Auch als die Mauer gefallen ist und der Vater Parteikarriere macht, sieht sie ihn selten. Später, da ist er schon abgetaucht, schreiben sie sich Briefe. Es gibt die „späten Besuche“, bei denen die nunmehr Erwachsene den Vater im Bademantel und mit langem Bart erlebt – „wie eine jener Dostojewski-Figuren, die er so liebt“. Eines Tages erhält sie über Telefon die Nachricht von seinem Tod und schickt diese eigenhändig hinaus in die Welt. Sie hat Journalistik studiert und weiß, wie man Meldungen verfasst. Ihre Emotionen behält sie für sich: „Im freien Fall von der Lichtgestalt zum enttarnten Spitzel – ich war beidem gegenüber skeptisch“, notiert sie am 22. November 1999. „Doch nun ist er tot; und er ist mein Vater.“
Vater und Verräter – bis sie sich dieser Tatsache ohne Skrupel und mit der nötigen Selbstsicherheit stellen kann, vergehen noch etliche Jahre. Aber irgendwann reift in ihr der Entschluss, sich schreibend mit dem Erlebten auseinanderzusetzen. „Warten auf den Vater – Erinnerungen an Ibrahim Böhme“erscheint im 30. Jahr nach dem Fall der Mauer im Europa-Verlag und wird zur Leipziger Buchmesse präsentiert.
Es ist kein homogenes Werk. Tatjana Böhme-Mehners Nachdenken über das Vater-TochterVerhältnis produziert Erinnerungsschübe. Sie berichtet, beschreibt und erzählt. Erwartungen, Sehnsüchte, Hoffnungen und Enttäuschungen fließen mit ein. Es geht ihr nicht um Rechtfertigung, schon gar nicht um Anklage oder Verteidigung. Sie möchte begreifen, was und warum es geschehen ist, und was den Vater zu seinem Tun bewogen hat. Sie nimmt Einblick in seine Stasi-Akte und trifft sich mit den alten Freunden in Greiz.
War der Vater wie manche andere Täter womöglich auch Opfer gewesen? Der Gedanke beunruhigt Tatjana Böhme-Mehner, seit sie von seiner Kindheit erfahren hat. Im Kinderheim in Zeitz. Die Mutter war gestorben, als er zwei Jahre alt war. Der Vater selbst erzählt einmal davon. Und sie, in keiner Weise darauf vorbereitet, versäumt es nachzufragen. Noch heute beschäftigt sie der Widerspruch: „Keine Frage: ,Notorisch‘ geschieht das, was er mit der Wahrheit macht. Aber müsste ,lügen‘ nicht viel bewusster sein; setzt das nicht ein viel klareres Verhältnis zu Realitäten voraus?“
„Irreal“ist eines der am häufigsten gebrauchten Worte im Buchtext. Es steht für das Erleben des Vaters, der alles, selbst sein meist überraschendes Auftauchen bei Frau und Tochter, „inszeniert“.
Warum nie nachgefragt wird, woher er kommt, wohin er geht und was er in seiner Abwesenheit treibt, gehört zu jenen Fragen, die auch nach der Lektüre bleiben. Auch Tatjanas Mutter lässt ihn gewähren.
Doch keineswegs entsteht der Eindruck, dass die Tochter im Kindergarten- und UnterstufenAlter darunter leidet. Im Gegenteil: Sie genießt das kostbare Zusammensein mit dem Vater als eine seltsame Zweisamkeit, die ihren Hunger nach Abenteuer und Rollenspiel stillt, zeitweilig zumindest. Die Familie als kleine Theaterbühne.
Lust auf Reisen in die weite Welt
So entfaltet sich nebenher und unaufgeregt eine Kindheit in der DDR, in der Thüringer Provinz. Im 5000 Einwohner zählenden Triptis kennt jeder jeden, da fällt man auf mit einem Vater, der meistens abwesend ist.
Und auch die sich leidenschaftlich der klassischen Musik zuwendende Oberschülerin ist zwar zurückhaltend, doch kein Kind von Traurigkeit. Als Studentin genießt Tatjana erst einmal ihre Freiheit, reist in der Welt herum. „Dass ich damit leben muss, dass mein Vater der enttarnte Stasi-Spitzel ist, die fallende Lichtgestalt, damit arrangiere ich mich; schließlich ist das nichts wirklich anderes als jener nicht greifbare Vater, den ich vor der Wende hatte“, gesteht sie rückblickend.
Nein, verdammen kann sie ihren Vater nicht, denn er hat ihr, auf seine Weise, auch viel gegeben. Sie redeten über „tiefschürfende Dinge, über Bücher, Philosophie, über Politik auch und über Geschichte – nur eben nicht über ihn oder unser Verhältnis. Über ,uns‘ im eigentlichen Wortsinne haben wir die 23 Jahre, die es dieses ,uns‘ hätte geben können, nie geredet.“
Das Bedauern mischt sich mit Bitterkeit. Doch die schwerste Prüfung steht ihr noch bevor – mit den erschreckenden Details, die Tatjana Böhme-Mehner 2009 aus der Buch-Recherche der Journalistin Christiane Baumann erfährt. Sie liest die „trostlose“, „wahre Geschichte“eines Menschen, den sie zu kennen glaubte. Der Vater ihres Vaters „ein brutaler Stasi-Mann“, der sich „irgendwann in der Arbeit erhängt. Das Kind immer herumgereicht, wenn es schwierig wurde, und zurückgeholt, wenn es woanders Fuß zu fassen schien.“
Ihr Fazit: „Keine Frage, mein Vater ist ein Verräter.“Doch frage sie sich dennoch, „ob jemand, der seine ganze Kindheit über immer wieder erfuhr, wie sein Vertrauen verraten wird, Verrat als solchen und im moralischen und juristischen Sinn als Unrecht überhaupt erkennen kann“. Tatjana Böhme-Mehner hat nie das Grab ihres Vaters besucht. Denn es gibt keins. Und sie wird nie gänzlich verstehen, was ihn antrieb – als Lichtgestalt und als Verräter. Alles, was sie hat, sind ihre Erinnerungen, ihre „persönliche Wahrheit“.