Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)
Nach der Schule raus in die Welt
D K 2019 Giselle will nach der Schule für ein Jahr nach Finnland. Doch was bedeutet ihr das Weltsehen?
Für die Reihe „Die Klasse von 2019“begleiten wir sechs Schüler des Friedrich-Schiller-Gymnasiums in Zeulenroda-Triebes auf ihrem Weg zum Abschluss. Gerade stecken die Schüler mitten in der schriftlichen Prüfungsphase. Jetzt kommt es wirklich drauf an. Heute stellen wir gleichzeitig auch die letzte der sechs angehenden Abiturienten vor.
Wir treffen uns am Zeulenrodaer Meer mit Giselle, die ab August ein Jahr in Finnland einen Freiwilligendienst an der Deutschen Schule in Helsinki absolvieren will. Mit der 17-Jährigen Zeulenrodaerin wollen wir darüber reden, welche Bedeutung das Reisen und Europa für ihre Generation hat. Warum zieht es sie nach der Schule weg aus der Heimat? Welche Erwartungen hat sie an der Auslandsjahr? Und welche Rolle spielt das europäische Projekt beim Reisen, Arbeiten und Träumen fern des heimischen Bettes?
Zeulenroda-Triebes. Ein kalter Wind weht an diesem grauen Montag über das Zeulenrodaer Meer. Viel zu kalt für den vermeintlichen Wonnemonat Mai. Wer plant da nicht im Kopf bereits die nächste Reise? Auch die 17-jährige Giselle steckt mitten in den Vorbereitungen für einen Tapetenwechsel auf Zeit. Doch die Schülerin des SchillerGymnasiums in ZeulenrodaTriebes hat dabei keine Bilder im Sinn, wie sie faul am Strand liegt. Sie möchte nach der Schule für ein Jahr nach Finnland. „Ich bin ein bisschen in Skandinavien verliebt“, sagt sie. Eine Liebe, die keine blinde Schwärmerei bleiben soll. „Ich will vor allem die Menschen und die Kultur kennen lernen“, sagt sie. Was also bedeutet das Reisen für die junge Frau? Welche Erfahrungen möchte sie machen? Und wie präsent ist das Projekt Europa dabei in ihrem Kopf? „Früher standen hier am Ufer noch viel mehr Bäume“, sagt sie, als sie auf die Talsperre hinausblickt. Giselle ist hier aufgewachsen und wohnt gleich um die Ecke. Mit dem Fahrrad ist sie in wenigen Minuten direkt am Wasser. Doch auch wenn sie gerne hier lebt, bleibt der Wunsch nach Fernweh hier am heimischen Meer unbefriedigt. „Für mich persönlich ist es immer sehr wichtig gewesen, über den eigenen Tellerrand hinaus zu schauen“, sagt sie. Eine wichtige Rolle spielen dabei ihre Eltern. Schon als Kind kommt sie mit ihrer Familie viel in Europa herum. Auf Campingsplätzen in England, Spanien und Frankreich knüpft sie Kontakte mit anderen Kindern. „Das war einfach ein tolles Gefühl, als ich im Ausland das erste Mal meine Sprachkenntnisse wirklich anwenden konnte“, sagt sie. An diesem Tag sei ihre Welt gefühlt sehr viel größer geworden. „Dass ich mich auch weit weg von Zuhause verständigen kann, war für mich ein wichtiger Moment, mich als Europäerin zu verstehen“, sagt sie.
Denn geht es in den ersten mit Händen, Füßen und Worten geführten Gesprächen noch um den besten Weg zur nächsten Eisdiele, wird auf kommenden Reisen das Thema Europa immer präsenter. „Ich habe das Gefühl unsere Generation hat schon ein Gespür dafür, was Europa bedeutet“, sagt sie.
Zu diesem Schluss kommt auch eine vor wenigen Tagen veröffentlichte Studie mit dem Titel Junges Europa 2019. Für die Erhebung wurden in elf europäischen Ländern 8220 junge Menschen zwischen 16 und 26 Jahren online befragt. Demnach ist die Zustimmung zu Europa gerade unter jungen Europäern hoch. In Deutschland sprechen sich beispielsweise 74 Prozent der befragten jungen Menschen für einen Verbleib des Landes in der Europäischen Union aus.
Doch Europa müsse eben mehr sein als freies Reisen und überall mit der selben Währung bezahlen zu können, sagt Giselle. Wenn sie beispielsweise im August nach Helsinki aufbricht, dann macht sie dies im Rahmen eines Freiwilligendienstes. An der Deutschen Schule in Helsinki wird sie bei der Kinderbetreuung mit anpacken. Für Giselle eine hervorragende Möglichkeit, auch ihren eigenen Berufswunsch zu ergründen. „Ich möchte vielleicht Lehrerin werden. Deswegen ist es natürlich gut, vorher auszutesten, ob mir der Umgang mit Kindern überhaupt liegt“, sagt sie.
Dass sie gleich noch einen Einblick in ein völlig anderes Bildungssystem und eine andere Kultur erhält, sei eben Ausdruck jenes „tiefergehenden“Europas. Das mehr ist, als der Blick über den Gartenzaun. Jenes Europa, das vom Austausch und Mitmachen der Nationen lebe. Für Giselle ist das Normalität. In der achten Klasse nimmt sie an einem deutsch-französischen Austausch teil. Beinahe jeden Sommer ist sie in einem anderen europäischen Land zu Gast.
„Es gibt auch auf dem Papier viel gute Argumente für Europa. Doch so richtig begreifen, kann man es erst, wenn du die Menschen vor Ort triffst“, sagt sie. Das sei heute einfacher als je zuvor. Dennoch müsse man dafür Sorge tragen, dass auch Menschen, die sich einen Auslandsaufenthalt nicht leisten können, dabei unterstützt werden. Sonst würde Europa zu einem Projekt der Besserverdiener verkommen. Und dann sei es auch kein Wunder, wenn die Anti-EUPopulisten in der Arbeiterschicht ihre Stimmen holen.
Sie selbst muss sich das Geld für das Jahr in Finnland auch noch in den Sommerferien verdienen. Denn das Taschengeld, dass sie für den Freiwilligendienst erhalte, reiche bei weitem nicht aus. „Ganz so leicht ist es eben doch nicht mit der Freizügigkeit“, sagt sie.
In der Tourist-Info am Zeulenrodaer Meer hat die Chefin Sabine Casper von unserem Gespräch Wind bekommen. Sie kann es verstehen, dass es die junge Leute nach der Schule in die weite Welt zieht. „Doch auch wir haben hier regelmäßig Gäste aus Amerika, Russland oder Spanien“, sagt sie. Weit weg – das sei halt auch immer eine Frage des Standpunktes.
Und wenn es Gäste von so weit her ins beschauliche Zeulenroda-Triebes verschlägt, dann ist das eben auch Ausdruck davon, dass Europa mehr ist, als große Werte, Worte und die Wahrzeichen der Hauptstädte. Es lebt davon, die Menschen und ihre Geschichten zu entdecken. „Das ist wohl auch das beste Mittel gegen Hass und Populismus“, sagt Giselle.
Zwischen Heimat und Auffbruch zu neuen Ufern Europa müssen sich auch alle leisten können