Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)
Eine Million Arten vom Aussterben bedroht
Weltbericht in Paris vorgestellt. Thüringen nimmt bei Naturschutz besondere Rolle ein
Erstmals seit 14 Jahren hat der Weltbiodiversitätsrat gestern in Paris einen Bericht zur Artenvielfalt vorgelegt. Danach sind weltweit rund eine Million Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht. Menschliche Eingriffe gefährden immer stärker die natürlichen Lebensräume und Artenvielfalt. Die Natur befinde sich in einem historisch beispiellosen Niedergang, heißt es weiter. Mehr als 140 Experten aus 50 Ländern trugen in den vergangenen drei Jahren das Wissen über das Artensterben zusammen.
Viele der bedrohten Arten werden dem Report zufolge schon in den kommenden Jahrzehnten verschwinden. Mehr als 40 Prozent der Amphibienarten und mehr als ein Drittel aller Meeressäugetiere seien in Gefahr. Weiter sei zu befürchten, dass zehn Prozent aller Insektenarten nicht überleben. Das zusammenhängende Netz des Lebens auf der Erde werde immer kleiner und schwächer, wurde gewarnt.
Thüringen kommt beim Artenschutz eine besondere Bedeutung und Verantwortung zu. Denn nach Schätzungen des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) beherbergt Thüringen bis zu zwei Drittel aller in Deutschland vorkommenden Arten. Die sogenannte Fauna-Flora-HabitatRichtlinie nimmt den Freistaat automatisch in eine besondere, europarechtliche oder bundesweite Verantwortung für Arten, die dort gelistet sind. Dies betrifft derzeit circa 100 Tier- und Pflanzenarten, darunter Hirschkäfer, Gelbbauchunke, Bechsteinfledermaus, Frauenschuh, Feldhamster, Kleine Hufeisennase, Helm-Azurjungfer, Skabiosen-Scheckenfalter, Laubfrosch und Steinkrebs.
Hierzulande noch häufig erscheinende Arten wie Zauneidechse oder Rotmilan – fast die Hälfte des Weltbestandes brütet in Deutschland, davon leben 1000 Brutpaare in Thüringen – stehen europäisch bereits unter Schutz.
Laut Naturschutzbund Nabu spielt der Freistaat auch eine wichtige Rolle bei der Ausbreitung von wandernden Tierarten wie Luchs, Wolf und Biber. Noch vor wenigen Jahren galten diese Tiere hier als ausgestorben. Nun wandern sie wieder nach Thüringen ein. Eine naturnahe Waldbewirtschaftung, die Wiedervernetzung von Lebensräumen und der Schutz von Lebensräumen spielen deshalb eine entscheidende Rolle.
Verschwindet wieder einmal eine Art von diesem Planeten, geschieht das in aller Stille. Nur selten schaffen es Exemplare auf die bunten Seiten der Zeitungen – wie jüngst die letzte weibliche Jangtse-Schildkröte, die ausgerechnet den Versuch, sie künstlich zu befruchten, nicht überlebte. Oder Sudan, das letzte männliche Nördliche Breitmaulnashorn der Welt, das in einem Reservat in Kenia lebte und einen eigenen Hashtag auf Twitter hatte. Meistens aber nimmt der Mensch kaum Notiz von all den verlorenen Überlebenskämpfen überall auf der Welt.
Doch nun macht die Wissenschaft Lärm. Über drei Jahre hinweg haben 145 Forscher des Weltbiodiversitätsrates IPBES, das Pendant zum Weltklimarat IPCC, das Wissen über den Zustand der Erde aus 15.000 Quellen zusammengetragen, analysiert und bewertet. Am Montag stellten sie eine rund 40-seitige Zusammenfassung des umfangreichsten Berichts zur Vielfalt der Arten in Paris vor – mit einem erschreckenden Ergebnis: Eine Million Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht – mehr als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. Viele von ihnen werden die kommenden Jahrzehnte nicht überleben. „Die Gesundheit der Ökosysteme, von denen wir und alle anderen Arten abhängig sind, verschlechtert sich schneller denn je“, mahnte der IPBESVorsitzende Sir Robert Watson. gestorben, 1000 weitere bedroht.
Besonders betroffen sind laut dem Bericht die Tropen. So gingen zwischen 1980 und 2000 100 Millionen Hektar tropischer Regenwald verloren, Lebensraum unzähliger Tier- und Pflanzenarten wie dem OrangUtan. Die Bäume fielen und brannten für Weideflächen in Lateinamerika und Plantagen zur Gewinnung von Palmöl in Südostasien. Zum Vergleich: Die Fläche von Deutschland beträgt rund 36 Millionen Hektar. „Es ist erschreckend, wie stark sich der negative globale Trend in allen Aspekten der Biodiversität und des Zustands der Ökosysteme abzeichnet“, sagt Professorin Almut Arneth vom Karlsruher Institut für Technologie und eine der Leitautorinnen des Berichts. „Plakativ formuliert: Fast alle Entwicklungen, die wir uns angesehen haben, zeigen nach unten.“
Die Forscher haben in ihrem Bericht fünf sogenannte Haupttreiber ausgemacht, die das Sterben der Arten auslösen und beschleunigen: die Nutzung von Land und Gewässern, die Jagd auf Tiere, der Wandel des Klimas, die Verschmutzung der Umwelt und der Einfluss sogenannter invasiver Arten, die heimische Arten verdrängen. Und überall hat der Mensch seine Finger im Spiel.
So sind laut dem IPBES-Bericht drei Viertel der Landfläche und 66 Prozent der Meere entscheidend durch den Menschen verändert. Die Größe der besiedelten Flächen hat sich seit 1992 mehr als verdoppelt. Mehr als ein Drittel der Landoberfläche und fast 75 Prozent der Frischwasserquellen werden für die Produktion von Lebensmitteln genutzt.
Eine Bevölkerung, die sich seit 1970 auf 7,6 Milliarden Menschen mehr als verdoppelt hat, steigender Wohlstand, eine stetig wachsende Nachfrage nach Konsumgütern und ressourcenaufwendigen Nahrungsmitteln wie Fleisch, damit einhergehend eine wachsende Industrie und eine immer intensivere monokulturelle Landwirtschaft, die mit dem Einsatz von Pestiziden zu einer immer stärkeren Verschmutzung der Umwelt und zum Sterben der Arten beiträgt: Mit seiner Art zu leben und zu wirtschaften zerstört der Mensch die Vielfalt der Natur – und schadet sich selbst. Er untergrabe die Grundlagen seiner eigenen Wirtschaft, seine Ernährungssicherheit, Gesundheit und Lebensqualität, sagte IPBES-Chef Watson.
Tatsächlich ist der Mensch abhängig von der Natur. „Wir tragen Baumwollkleidung, brauchen Holz für Möbel, wollen essen, suchen Naherholung in der Natur“, sagt Arneth, „all das hat mit Ökosystemen zu tun.“
Verschwindet also eine einzelne Art, bedeutet das nicht einfach nur weniger Tiere oder Pflanzen auf dem Planeten, der Schätzungen zufolge acht Millionen Arten beherbergt, davon allein 5,5 Millionen Insektenarten. Diese verschwundene Art hinterlässt ein Loch im Netz der Ökosysteme. Vielleicht kann eine andere Art dieses Loch stopfen, vielleicht nicht. „Ab wann das Aussterben einzelner Arten essenziell für Ökosysteme ist, wissen wir noch nicht“, sagt Almut Arneth. Hier bedürfe es noch weiterer Forschung.
Klar ist jedoch: In der Natur hängt alles mit allem zusammen. So spielt auch der Schutz des Klimas eine entscheidende Rolle für den Schutz der Arten. Denn Klima und Biodiversität hängen direkt miteinander zusammen: Der Klimawandel bedroht Arten; und andersherum verstärkt der Verlust von Arten wie etwa Bäumen den Wandel des Klimas. „Das unverzichtbare, miteinander verwobene Netz des Lebens auf der Erde wird kleiner und zunehmend löchriger“, beschreibt es Professor Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung
„Das unverzichtbare Netz des Lebens auf der Erde wird kleiner und löchriger.“ Josef Settele, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung und einer der Leitautoren des Berichts
(UFZ) und einer der Leitautoren. „Dieser Verlust ist ein direktes Ergebnis menschlicher Aktivität und eine direkte Bedrohung menschlichen Wohls in allen Teilen der Welt.“
Der Bericht, der in seiner ganzen Länge von mehr als 1500 Seiten im Laufe des Jahres vorgestellt wird, soll als Handlungsempfehlung für die Regierungen der einzelnen Länder dienen. Besonders wichtig ist der Report für die Weltartenschutzkonferenz im nächsten Jahr in China. Dort sollen die Eckpunkte für den weltweiten Artenschutz nach 2020 festgelegt werden. Ein weiterer Versuch, die Natur zu retten. Denn die im Rahmen der UN-Konvention zur Biodiversität festgelegten „Aichi-Ziele“für 2020 wurden zum größten Teil nicht erreicht, stellen die Autoren des Berichts fest.
Die Herausforderungen seien immens, sagt Arneth. „Jedes weitere Jahr macht es schwieriger, noch etwas zu bewirken“, sagt die Wissenschaftlerin. „Wir haben in unserem Bericht gezeigt, dass es nicht den einen goldenen Lösungsweg gibt.“Produktionswege müssten sich ändern, ebenso wie das Konsumverhalten. „Verbraucher, Regierungen, Kommunen – alle müssen an einem Strang ziehen.“
Bundesumweltministerin Svenja Schulze sieht den Report als alarmierenden Weckruf – und sieht in Deutschland vor allem die Landwirtschaft in der Pflicht. Es gehe um nichts Geringeres „als darum, dass wir auf dieser Erde überleben“, sagte die SPD-Politikerin am Montag am Rande eines Treffens von G7Umweltministern im französischen Metz. Wie beim Klimaschutz könne das Umweltministerium die Probleme nicht allein lösen. Mit Agrarministerin Julia Klöckner (CDU) streitet die Umweltministerin unter anderem über Regeln fürs Düngen, den Insektenschutz und die Reduktion von Pestiziden wie Glyphosat.
Business as usual werde es jedenfalls nicht mehr geben können, sagt Georg Schwede von der Organisation Campaign for Nature. „Um die Lebensgrundlagen auf der Erde zu erhalten, müssen wir bis 2030 rund ein Drittel der wichtigsten Landund Meeresökosysteme wirksam schützen, die notwendige Finanzierung sicherstellen und indigenen Völkern eine zentrale Rolle einräumen.“
Besonders diese Völker haben die Wissenschaftler in den Fokus genommen und festgestellt: Dort, wo indigene Bevölkerung in den Schutz der Landschaft involviert ist, gibt es viel weniger Probleme. Sie sind effektive Wächter von Natur- und Klimaschutz.