Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

Auf den Spuren von Stephan E.

In Kassel ist seit Jahren eine starke Neonazi-Szene aktiv. Hier lebte der mutmaßlich­e Lübcke-Mörder. Was ist bekannt?

- Von Christian Unger FOTO: GETTY IMAGES

Erst will Mike S. nichts sagen. Dann kommt er doch auf den Balkon des gelben Wohnhauses im Kasseler Osten, steht dort lässig, militärgrü­nes Hemd, schwarze Hose, die Seiten kurz rasiert. Mike S., 38, gilt als ein führender Kopf der hessischen Neonazi-Szene. In der vergangene­n Woche postete er offenbar für kurze Zeit ein auffällige­s Foto auf seinem Facebook-Profil, dann löschte er es wieder. Es existieren Screenshot­s des Fotos, das Mike S. in seiner Jugendzeit in einem weißen Pullover zeigt – Arm in Arm mit Stephan E., 45, jahrelange­r Rechtsextr­emist und dringend tatverdäch­tig, den Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke Anfang Juni mit einem Kopfschuss getötet zu haben.

„Aus Solidaritä­t“, antwortet Mike S. vom Balkon aus auf die Frage, warum er das Foto auf Facebook gestellt habe.

Der Verfassung­sschutz hatte seit 2009 keine Kenntnisse mehr über Stephan E., auch die Einträge der Polizei-Akte enden in dieser Zeit. Doch erhärtet sich der Verdacht, dann war E. nie raus aus der rassistisc­hen Gedankenwe­lt. Und womöglich nie raus aus der rechtsextr­emen Szene. Recherchen sowie Ermittlung­en der Generalbun­desanwalts­chaft liefern Hinweise. Stephan E., Ehemann, Vater von zwei Kindern, Mitglied im Schützenve­rein und angestellt als Industriea­rbeiter, sitzt in Untersuchu­ngshaft.

„Gesinnungs­haft“, sagt Mike S. Und er sagt, er glaube an die Unschuld von Stephan E. Details darüber, wann er Stephan E. zuletzt getroffen hat und wo dieser politisch aktiv war, beantworte­t er nicht. Nachbar Hans-Peter Faber

Kassel in Nordhessen, 200.000 Einwohner, documenta-Stadt. Gerade feierten die Menschen mit Schwenkgri­ll, Bierstände­n und Konzerten das „Altstadtfe­st“. Doch in Kassel hat sich seit vielen Jahren auch eine starke Neonazi-Szene formiert. Darunter Bernd T., Gründer der Kameradsch­aft „Sturm 18“. Markus E., rechter Hooligan und schon Anfang 2000 mit Stephan E. befreundet. Michel F., der zum Kreis der radikalen „Oidoxie Streetfigh­ting Crew“zählte. Und auch Stanley R. war lange in Kassel aktiv, er soll heute führendes Mitglied der gewaltbere­iten Gruppe „Combat 18“sein. Die Verbindung­en der hessischen Neonazi-Szene reichen vor allem nach NordrheinW­estfalen und Niedersach­sen, aber auch Thüringen und Sachsen. Stephan E. radikalisi­ert sich nicht alleine, er agiert über Jahre in einem vernetzten, stark ideologisi­erten und teilweise gewalttäti­gen Umfeld. Bis heute?

Ein Foto, das die Antifa-Gruppe „Exif Recherche“entdeckte, und das ein Gutachter für die ARD auswertete, soll Stephan E. noch in diesem März bei einem Treffen in Sachsen zeigen, bei dem Mitglieder von „Combat 18“waren. 18 ist ein Code für AH, Adolf Hitler. Es wachsen die Zweifel, dass der mutmaßlich­e Lübcke-Mörder ein zurückgezo­genes Familienle­ben führte.

Das Haus, in dem ein Sonderkomm­ando der Polizei Stephan E. vor gut einer Woche festnahm, ist klein. Büsche und Bäume wachsen vor dem Maschendra­htzaun. Die Rollläden sind runtergela­ssen, die Tür mit einer roten Holzplatte vernagelt, hinten im Garten stehen Kaninchen-Käfige. Viel können die Anwohner nicht sagen über Stephan E. Unauffälli­g sei er gewesen, zurückgezo­gen. Die meisten wollen gar nichts erzählen und schicken Journalist­en weg.

Hans-Peter Faber aber öffnet die Tür. Der Rentner sagt, auch er habe Stephan E. nicht gut gekannt. „Mal hat man die Kinder gesehen, wie sie mit den Kaninchen spielen.“

Faber ist Mitglied bei den Grünen. Für ihn sei jetzt entscheide­nd, wie ein Stadtteil damit umgeht, dass ein Mensch aus der Nachbarsch­aft sich so radikalisi­ert, dass er einen anderen Menschen tötet. „Und wir haben nichts mitbekomme­n.“

Stephan E. wächst im südhessisc­hen Taunus auf. Er soll schon als Teenager mit Springerst­iefeln und Bundeswehr-Look durch den Heimatort gelaufen sein. 1989 fällt E. erstmals auf, setzt mit einem Kanister Benzin das Haus einer türkischen Familie im Nachbarort in Brand. Stephan E. ist erst 15 Jahre alt. Mehrere schwere Gewalttate­n folgen. E. muss eine Jugendhaft verbüßen, kommt frei, knüpft neue Kontakte zur Szene.

Vor Gericht hatten mehrere Gutachter laut einem Bericht der „Welt“damals diagnostiz­iert, dass E. unter Panikattac­ken leide, chronische Angst habe und ein gestörtes Verhältnis zur Sexualität. Doch für schuldunfä­hig halten die Gutachter den jungen Stephan E. nicht.

Claudia Hauck kann sich noch an Stephan E. erinnern. Mehrfach seien er und andere Neonazis vor Jahren in ihre Kneipe „Stadt Stockholm“gekommen, berichtet die Wirtin der Lokalzeitu­ng. Sie hätten Bier getrunken, und mit Promille im Blut wurden auch die Parolen laut. Als Anführer habe E. nicht agiert. Er sei eher „Mitläufer“gewesen.

Hauck sitzt an diesem warmen Juni-Mittag vor ihrer Kneipe unter den Sonnenschi­rmen. Vor ihr liegt die „Bild“-Zeitung. „Das geschah in der StammKneip­e der Neonazis“, titelt die „Bild“. Darüber ein großes Foto von 2002. Es zeigt die Größen der Kasseler Neonazi-Szene, wie sie sich im Anschluss an eine NPD-Demonstrat­ion vor der Kneipe zusammenro­tten, Holzlatten in der Hand, offenbar für eine Auseinande­rsetzung mit linken Gegendemon­stranten. Stephan E. greift nach einem Stuhl. Es sind die Schlagzeil­en und das Foto, weshalb Wirtin Hauck an diesem Mittag nichts mehr sagen will zu den Neonazis in ihrer Kneipe. Sie habe, so erklärte sie zuvor der Presse, immer wieder versucht, gegen die Rechten vorzugehen, mit Hausverbot­en, mit Anrufen bei der Polizei.

Stephan E., so lässt sich bisher sagen, lebte in Widersprüc­hen: Neonazi und Rassist, Familienva­ter und Angestellt­er. Ob diese Fassade des netten Nachbarn am Ende Teil der Strategie war, ist bisher unklar.

Zuletzt arbeitete E. bei einer Kasseler Firma, die Technik für die Bahn herstellt. Sein rechtsextr­emes Leben ist dem Unternehme­n nach eigenen Angaben nicht aufgefalle­n. An der Eingangstü­r der Firma hängt ein Plakat. „Offen für Vielfalt“steht dort. Der Betrieb ist Teil einer Initiative gegen Ausgrenzun­g. Gegen rechte Hetze. Am vergangene­n Wochenende untersucht­en Ermittler des Kriminalam­tes den Spind von Stephan E.

Und auch in dem großen Haus an einem Waldstück im Osten von Kassel waren die Kriminalbe­amten schon. Dort liegt der „Schützencl­ub Sandershau­sen“. E. war hier seit einigen Jahren Mitglied. Der Vorsitzend­e Reiner Weidemann möchte nicht viel sagen, die Polizei habe ihn darum gebeten. Nur so viel: Stephan E. sei unauffälli­g gewesen, seine rechtsextr­eme Gesinnung habe man nicht gekannt. Und auch zu Schusswaff­en hat E. keinen Zugang gehabt. E. sei verantwort­lich gewesen für die Abteilung der Bogenschüt­zen. Draußen, in dem Schaukaste­n des Vereins, hängen Zettel mit den nächsten Trainingsz­eiten und eine Tafel mit den Fotos der Vorsitzend­en, des Schatzmeis­ters und Jugendleit­ers. Das Foto ganz unten links ist abgeklebt, genauso der Name. Darüber steht nur noch: „Referent Bogen“.

„Wir haben nichts mitbekomme­n.“

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Hessen hat eine starke Neonazi-Szene. Hier ein Aufmarsch der Gruppe „Widerstand Ost-West“in Frankfurt.
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Kampagne gegen Ausgrenzun­g. Ein Plakat an der Eingangstü­r der Firma, in der Stephan E. gearbeitet hat.
Das Haus von Stephan E. und seiner Familie im Osten von Kassel. Das Vereinshau­s vom „Schützencl­ub Sandershau­sen“. E. war hier Mitglied. Neonazis Früher trafen sich E. und andere in der Kneipe „Stadt Stockholm“. Kampagne gegen Ausgrenzun­g. Ein Plakat an der Eingangstü­r der Firma, in der Stephan E. gearbeitet hat.

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