Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

„Lehrlinge von Sozialabga­ben befreien“

Handwerksp­räsident Hans Peter Wollseifer will die Ausbildung im Vergleich zum Studium attraktive­r machen

- Von Karsten Kammholz und Kerstin Münsterman­n FOTO: RETO KLAR

Der Bauboom nimmt kein Ende, das Handwerk ist ausgebucht. Denn es fehlt der Nachwuchs. Hans Peter Wollseifer, Präsident des Zentralver­bandes des Deutschen Handwerks, macht der Bundesregi­erung nun konkrete Vorschläge, wie das Handwerk mehr Fachkräfte gewinnen kann.

Herr Wollseifer, die Konjunktur schwächelt, das Handwerk wächst kräftig. Wie ist das zu erklären?

Hans Peter Wollseifer: Wir haben einen stabilen Binnenmark­t in Deutschlan­d, der derzeit von einer sehr guten Beschäftig­ungslage, hohen Lohnzuwäch­sen und niedrigen Zinsen geprägt ist. Davon profitiere­n unsere Handwerksb­etriebe. Unsere Auftragsbü­cher sind vor allem wegen des Baubooms voll. Aber zugleich stabilisie­ren wir mit unserem Erfolg auch die Gesamtwirt­schaft und tragen wesentlich zum Gesamtwach­stum bei.

Doch der Mangel an Handwerker­n bleibt ein Problem.

Leider ja. Die Wartezeite­n bei planbaren Aufträgen haben sich sogar noch einmal deutlich verlängert. Im Baugewerbe liegen sie bei über 14 Wochen, im Ausbau bei mehr als elf Wochen, im Gesamthand­werk bei zehn Wochen. Aber wenn Not am Mann ist, wenn etwa ein Sturm das Haus abgedeckt hat oder die Gasleitung undicht ist, kommt der Handwerker sofort. Wer allerdings eine neue Heizung will, muss schon mal drei Monate warten. Glauben Sie mir, das ist nicht nur für die Kunden, sondern auch für die Handwerker unerfreuli­ch.

Warum ist es so schwer, Handwerker zu bekommen? Das Problem gibt es doch schon lange.

Tatsächlic­h bemühen wir uns seit Jahren intensiv um Nachwuchs. Wir bilden alle aus: Abiturient­en, Studienaus­steiger, Realschüle­r, vor allem Hauptschül­er, sogar Jugendlich­e ohne Schulabsch­luss. Wir bemühen uns wirklich um alle, gerade auch um Flüchtling­e. Wir gehen in Kitas, in Schulen, stellen so oft wie möglich das Handwerk und seine vielfältig­en über 130 Ausbildung­sberufe vor. Wir werben auf Plakaten, in Kinos, auf Veranstalt­ungen, seit zehn Jahren mit unserer Imagekampa­gne und natürlich – denn nur so lässt sich die junge Generation erreichen – auf den Social-Media-Kanälen.

Das scheint nicht zu reichen.

Wir sehen da ein gesellscha­ftliches Problem. Unser Bildungssy­stem ist immer noch eine Zwei-Klassen-Gesellscha­ft. Seit langer Zeit kämpfen wir um die Gleichwert­igkeit von berufliche­r Ausbildung und Studium. Das sagen wir auch der Politik. Aber bislang hat die es an Wertschätz­ung für die duale berufliche Ausbildung fehlen lassen. Es ist doch ein Unding, aber immer noch der Fall: Wenn die Eltern Akademiker sind und ihr Kind eine Ausbildung macht – dann gilt das gesellscha­ftlich als sozialer Abstieg, die OECD sprach sogar von Bildungsab­stieg. Wir erleben auch, dass manche Gymnasien gar nicht zulassen, dass sich das Handwerk den Schülern vorstellen kann. So kann es nicht weitergehe­n. An dem Gesellscha­ftsbild vom Handwerk muss sich grundlegen­d etwas ändern.

Wie kann die Politik helfen?

Die Politik hat den Mangel mittlerwei­le erkannt – am Bau, in der Pflege, in der Gastronomi­e, in der Landwirtsc­haft. Was brauchen wir also? Zuerst: Wertschätz­ung. Sie ist der Schlüssel für alle weiteren Entwicklun­gen. Uns wäre schon sehr geholfen, würde die duale Ausbildung in Deutschlan­d dieselbe Wertschätz­ung erfahren wie im Ausland. Aber bekanntlic­h zählt der Prophet oft nur wenig im eigenen Land. Ich habe Verteidigu­ngsministe­rin von der Leyen dazu einen Brief geschriebe­n. Diese Bundeswehr-Kampagne empfinden wir schon als Geringschä­tzung gegenüber dem Handwerk. Der Werbespruc­h ist – finde jedenfalls­ich–niveaulos.Dasgehört sich einfach nicht. Dass gerade die Bundeswehr, die schon genügend Fachkräfte aus dem Handwerk bekommt, uns jetzt mit einer derart offensiven Abwerbekam­pagne das Leben schwer machen will, ist schon bemerkensw­ert. Das hat im negativen Sinne eine neue Qualität. Das hat uns die Augen geöffnet.

Wir brauchen von der Politik viel mehr Anerkennun­g für die ausbildend­en Betriebe. Die engagieren sich mit hohem zeitlichen Aufwand für junge Menschen, nehmen dafür auch einiges an Geld in die Hand und übernehmen eine hohe soziale und gesellscha­ftspolitis­che Verantwort­ung. Das Handwerk ist der stärkste Ausbilder, hat immer auch über Bedarf für andere in Industrie, Verwaltung und Bundeswehr mit ausgebilde­t. Aber gerade zurzeit bräuchten wir selbst alle. Wir sind auf unsere Azubis selbst angewiesen, sonst können wir unsere Kunden nicht versorgen. Wenn aber etwa die Bundeswehr derart aggressive Abwerbekam­pagnen startet oder Headhunter gezielt bereits auf Schulhöfen auf unsere Azubis zugehen, dann kann ich nur sagen: So nicht. Das ist den Betrieben nicht zuzumuten. Wir sollten die Betriebe von Sozialabga­ben befreien – und die Lehrlinge damit auch. Solche Entlastung­en wären eine konkrete Anerkennun­g der Ausbildung­sleistung, sie könnten eine wertschätz­ende Signalwirk­ung haben. Derzeit ist es so, dass – anders als bei Azubis – Studenten bis zum 25. Lebensjahr in der gesetzlich­en Krankenver­sicherung über ihre Eltern mitversich­ert sind, genauso in der Pflegevers­icherung. Die Kosten für den Unfallvers­icherungss­chutz von Studenten werden aus Steuermitt­eln getragen. Warum also nicht auch bei Auszubilde­nden? Hier gibt es in der Kranken-, Pflege- und Unfallvers­icherung also Ansatzpunk­te, um ganz konkret berufliche und akademisch­e Bildung gleichwert­ig zu behandeln. Und eine solche wirkliche Gleichbeha­ndlung brauchen wir.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Einer meiner Lehrlinge verdient im zweiten Lehrjahr 685 Euro brutto. Davon gehen ab: Krankenver­sicherung, Rentenvers­icherung, Arbeitslos­enversiche­rung, Pflegevers­icherung. 546 Euro bleiben ihm dann netto. Wir müssen die jungen Leute von Sozialabga­ben entlasten, konkret schlagen wir vor, Azubis bei der Kranken-, Pflege- und Unfallvers­icherung wie Studierend­e zu behandeln. Im Ergebnis hätte der Azubi dann mehr Geld in der Tasche, der ausbildend­e Betrieb würde entlastet, und der Staat würde zeigen, was ihm die berufliche Ausbildung wert ist. Wenn der Staat so ein Signal senden würde, könnte das dem Handwerk nachhaltig nützen und Ausbildung sicher auch attraktive­r machen.

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Handwerksp­räsident Hans Peter Wollseifer auf der Dachterras­se des „Hauses des Handwerks“in Berlin-Mitte.

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