Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)
Welterkundung in abgesteckten Grenzen
Waltraud Seidel aus Tegkwitz hat ein Buch geschrieben: „Eingesperrt!? – Reiselust und Reisefrust in der DDR“
„Ja, wart ihr denn nicht eingesperrt in der DDR?“Dieser Frage begegnet Waltraud Seidel seit dem Mauerfall vor drei Jahrzehnten immer wieder. Und nach wie vor versetzt sie die Tegkwitzerin regelrecht in Rage. Zuletzt 2017 in Wien, ihrer Lieblingsstadt und ihrem Sehnsuchtsziel, das sie kurz nach dem Mauerfall erreichte.
„Wir saßen gemütlich mit Freunden zusammen, redeten“, erinnert sie sich an jenen Abend im Dezember 2017.
Und da war sie wieder, diese Frage: „Wart ihr denn nicht eingesperrt? Ihr durftet doch nicht reisen.“„Doch“, antwortete die Tegkwitzerin trotzig. „Wir waren überall, wo wir hin konnten.“
Und Waltraud Seidel – 1942 in Breslau geboren, als Zweijährige mit ihrer Familie vor der nahenden Kriegsfront aus Schlesien geflüchtet, angekommen und seitdem tief verwurzelt in Ostthüringen – begann zu erzählen. Von ihrer ersten Auslandsreise 1960. Die frisch gebackene Abiturientin brach mit ihrer Abschlussklasse auf in die Tschechoslowakei. Später mit ihrem Mann und ihrer Tochter sowie zwei befreundeten Familien ging es dann mit dem kleinen Wohnwagen auf Tour: an den Oster- und Pfingstfeiertagen, in den großen Ferien sowieso. Einmal sogar an Weihnachten. „Aber das war so kalt, wir hatten ja keine Heizung in unserem Wohnmobil.“Und sie berichtete ihren Wiener Freunden im Dezember 2017 von all den Erlebnissen, die sie schon vor dem
eigentlichen
Start jeder Reise erfuhr. Angefangen von den akribischen Planungen einer Tour – alle kulturellen Sehenswürdigkeiten und Höhepunkte musste der reisefreudige DDR-Bürger bereits Monate zuvor ebenso selbst recherchieren, wie geeignete Zelt- und Übernachtungsplätze auskundschaften – bis hin zur Organisation der Versorgung. Welche Konserven mussten mit? Was kann zur Not unterwegs gekauft werden? Wer beschafft Ersatzteile für Auto und Wohnmobil, wenn unterwegs eine Panne die Pläne zu durchkreuzen droht? Wie verstaut man all das auf engstem Raum? Reisen bildet bekanntlich. „Bei uns damals schon vorher“, fasst Waltraud Seidel dieses regelmäßig wiederkehrende Ritual zusammen. Planung war für das DDR-Volk alles, zumal die Währung fürs jeweilige Reiseland begrenzt war.
Und Waltraud Seidel kam herum. Sie und ihre Familie und Freunde entdeckten Prag statt Paris, Krakau statt London und sie badeten im Balaton statt im Mittelmeer. „Bis nundr nach Bulgarchen...“– der Song von Jürgen Hart galt damals nicht nur für Sachsen. Auch Thüringer beschnarchten die Welt, soweit es ihnen möglich war.
„Das müssen Sie aufschreiben“, sagte Martin Urbanek, nachdem Waltraud Seidel zu Ende erzählt hatte in Wien im Dezember 2017. Der Mann arbeitet für den Wiener KarinaVerlag. „Sie sind doch Zeitzeugin.“
Die Idee für das Buch war also geboren. Geschrieben hat es Waltraud Seidel aber erst einige Monate später. Den Ausschlag dafür gab eine Talk-Runde im Fernsehen. Es ging ums Reisen in der DDR. Eine der Gesprächsteilnehmerinnen sagte sinngemäß, dass sie jetzt sehr viel unterwegs sei, da sie in der DDR ja eingesperrt gewesen sei. „Eingesperrt?“, erregt sich Waltraud Seidel noch heute. „Das war eine so ungezogene Behauptung. Walter Janka war eingesperrt, er saß im Gefängnis. Und ich kenne genug Leute, denen ebensolches Unrecht widerfuhr
Waltraud Seidel
in der DDR. Aber ich und mit mir sicher viele andere auch – wir waren doch nicht eingesperrt.“Unfrei seien sie gewesen. Von der Staatssicherheit bespitzelt. Eingeschränkt. Aber eingesperrt? „Nein“, sagt Waltraud Seidel entschieden.
Nach diesem Fernsehabend mit Talkshow habe sie alles herausgesucht: Reiseerinnerungen und -Tagebücher seit ihrer AbiFahrt in die Tschechoslowakei bis zu ihrer ersten Begegnung mit Wien 1990. Und dazwischen all die Erinnerungen an die Erkundung der Welt, in abgesteckten Grenzen zwar, aber nicht minder wertvoll. „Ich bin quasi noch mal durch alles hindurchmarschiert“, blickt Waltraud Seidel auf die vergangenen zwei Jahre zurück. Der erste Blick auf die berühmte Uhr des Prager Rathauses bis hin zum Schnee im Juli in der Hohen Tatra oder den Blick vom Steffel.
Ihren Marsch durch all ihre Reisen hat sie nun auf 180 Seiten gebannt. Gespickt ist er mit Schwarz-Weiß-Fotos. Eine Sammlung glücklicher, abenteuerreicher Momente, erzählt in vielen kleinen Geschichten und mit noch mehr Details, die ergreifen. Zumindest all jene, die diese Art zu reisen noch kennen, weil sie sie bis November 1989 selbst praktizierten. Details, die Waltraud Seidel mit wohl den meisten knapp 17 Millionen Menschen teilt, die bis dahin in der DDR lebten. „Wir waren eingeschränkt, nicht eingesperrt. Das will ich zeigen. Und, was ich alles erlebt habe.“
Und von den Begegnungen unterwegs will sie erzählen. Wie sie Westdeutsche in Ungarn traf, mit denen sie abends am Lagerfeuer saß. „Wir sangen die gleichen Lieder zur Gitarre.“Und sie fragt nach dem Heute: „Reisen ist sicher kein Problem – sofern das Bankkonto gefüllt ist“, nennt sie eine Grenze auch jetziger Freiheit. Und sie fügt hinzu: „Waren wir eingesperrt oder eingeschränkt? Ich finde, der Leser selbst soll entscheiden.“
„Auch wir sind durch die Welt gereist. Dazu will ich ergänzen: Unsere Reiselust, sie war grenzenlos, die Reisefreiheit, die hielt sich in Grenzen.“