Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)
Lebensgeschichte
Kristina Vogel hat ein Buch geschrieben.
„Das war verdammt noch mal die lächerlichste Hantel, die ich in meinem ganzen Leben gesehen hatte… Ich hielt den Besenstiel mit zitternden Armen bestenfalls zwanzig Zentimeter vor meine Brust.“Als Kristina Vogel den ersten Tag ihres Rollstuhltrainings beschreibt, hofft man so sehr, dass sie es schafft, „das blöde Ding nach links und rechts zu bewegen, nach unten und oben“.
Mitten im Bangen stellt sich aber eine Art Beruhigung mit dem Wissen ein, dass es ihr gelingt. Weil da bereits rund 180 Seiten des Buchs. „Immer noch ich. Nur anders“hinter einem liegen. Ans Ankommen im Auffanglager, wohin sie 1991 aus Kirgisien gekommen war, kann sie sich nicht erinnern. Aber daran, als sie nahe Kindelbrück mit acht Jahren zur Wipper hinabstieg, die Strömung des Flusses sie mitriss. Zwei Hunde zerrten sie raus. „Es war der erste Unfall, der tödlich hätte ausgehen können“, bilanziert Kristina Vogel.
Bis zum nächsten Unglück – „anscheinend neige ich zu Dramen“, dauert es. Im Leben und im Buch, in dem sie nicht literarisch berichtet, „denn hochtrabende Ausdrücke sind nicht mein Ding“, sondern mit der ihr eigenen Sprache. Die Autobiografie ist eine Mischung von Authentizität, Ehrlichkeit und Witz, manchmal sehr im Detail verhaftet. „Es war nicht einfach, einen Ghostwriter tief in meinen Kopf und ins Herz zu lassen.“Sie musste viel reflektieren, „es war wie eine Therapie“, ein ständiger Wechsel „zwischen Lachen und Weinen.“
„Ich hatte nicht die Kraft, die Augen zu öffnen. Ich war in der Hölle. . .“
Kristina Vogel erzählt von ihren sportlichen Anfängen in Sömmerda, der schwierigen Entscheidung zwischen Tanz und Radsport, dem ersten Bahnrennen 2005 in Gera, ihrer Liebe zu Michael und warum aus Kristina Ade mit 17 Kristina Vogel wurde.
Ein Name, der auf den Radbahnen der Welt auf vielen Ergebnislisten mehrere Jahre ganz oben stand. Dank Eigenschaften wie Ehrgeiz und Disziplin, die Erfolge ermöglichen und bei Tiefschlägen helfen. „Ich bin gefallen, ich kann auch wieder aufstehen“, lautet die Titelergänzung des Buches.
Es bewegt, wenn Kristina Vogel von ihrem Unfall 2009 berichtet – als sie nach einer Trainingsfahrt nahe Erfurt mit einem Fahrzeug kollidiert, das ihr die Vorfahrt nimmt.
Koma, zerquetschte Lunge, gebrochener Kiefer, zerschnittenes Gesicht, lädierter Brustwirbel sind die Folgen.
Die Gänsehaut verschwindet beim Lesen nicht, wenn sie jene Stunden um den 26. Juni 2018 schildert, den Zusammenstoß in Cottbus mit einem Nachwuchsfahrer aus den Niederlanden. „Auf keinen Fall durfte ich wie ein Mädchen heulen. Ein Unfall ist auch bloß ein Job, der gemacht werden muss… Ich musste atmen, jetzt zieht mir doch die Schuhe aus, dachte ich.“Als Kristina Vogel einen Teamkameraden mit diesen davonlaufen sah, ohne, dass sie gemerkt hatte, dass sie ihr abgenommen wurden, wusste sie: „Ich kann nicht mehr laufen.“
Es folgen Operationen, Gewissheiten, Schmerzen. „Ich hatte nicht die Kraft, die Augen zu öffnen. …Ich schwebte davon in eine Beiwelt. Um mich herum waren Farben, die sich zu Säulen aufschichteten, dann wieder zerflossen und zu einem Tiger wurden. Der Tiger begann alles zu zerreißen.“
Aber er schaffte es nicht ans Ziel, Kristina Vogel war stärker. Sie musste allerdings lernen, die leblosen Beine, die ihr zu spektakulären Triumphen verholfen hatten, irgendwie gern zu haben. Im Krankenhaus überlegte sie: „Vielleicht machte es Sinn, sie amputieren zu lassen? …Dann fiel mir ein. Herrje ich hatte ja zweihundert Paar Schuhe. Wo sollten die hin…natürlich war der Gedanke bescheuert. Ganz abgesehen davon, dass mir der Boden-rollstuhl-transfer versagt geblieben wäre…den wollte ich hinkriegen.“
Bei Olympia in Tokio wäre sie gern als Fernseh-co-kommentatorin dabei
Und das Glück ist spürbar, als sie erstmals von Berlin nach Erfurt darf. Dort, wo sie sich ein Zuhause eingerichtet hat. Kristina Vogel offenbart, dass sie mit Jugendliebe Michael derzeit ein zweites Haus in Kienbaum plant. Am Bundesleistungszentrum in der Nähe von Berlin wird sie regelmäßig sein: zur Fortsetzung der Reha und zum Neustart als Trainerin. Ab diesem Wochenende ist die 30-Jährige für die Sportfördergruppe der Bundespolizei im Bereich Radsport zuständig.
Es solle jedenfalls weiter „bunt“in ihrem Leben sein. Dazu gehöre, dass diese „Scheiß-pandemie“endlich aufhört. Alle müssten da mitspielen, sie als Polizeihauptmeisterin hätte eine Vorbildfunktion, würde sich auch sofort impfen lassen. „Logisch. So etwas wie mit der Lunge will ich nicht noch mal durchmachen.“Bei Olympia im Sommer möchte die zweifache Gewinnerin von Gold gern als Fernseh-co-kommentatorin dabei sein. „Doch über die Austragung entscheiden ja andere.“Und es wirkt fast so, dass sie das etwas bedauert. Denn gern bestimmt Kristina Vogel selbst den Weg und überwindet dabei scheinbar unüberwindliche Hindernisse. Aber sie staunt auch selbst darüber, was mit Querschnittslähmung und Rollstuhl möglich ist. Da sei manch kleines Wunder dabei.
Das Halten eines Besenstiels ist längst keins mehr. Mittlerweile stemmt Kristina Vogel vor ihrem Körper kiloschwere Hanteln.
Das Buch: „Immer noch ich. Nur anders: Mein Leben für den Radsport“von Kristina Vogel und Matthias Teiting erscheint am 1. März und kostet 20 Euro