Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

„Und dann hole ich unsere Oma“

Für eine alleinerzi­ehende Mutter und vier Söhne ist Jena auf der Flucht aus Syrien eine wichtige Zwischenst­ation

- Von Gerlinde Sommer

Die längste Zeit in Jena liegt hinter Amal Shehab und ihren vier Söhnen. Seit 2015 lebt die Familie dort. Die vier Jungs – zwischen 9 und 19 Jahren alt – haben sich gut eingelebt. Sind Schüler oder Berufsschü­ler, wollen eine Lehre machen oder später studieren. Sie sprechen gut deutsch. Auch die Mutter hat die Sprache gelernt und macht gerade einen weiteren Kursus. Am Integratio­nswillen der Familie mangelt es nicht. Sie haben Kontakte zu Deutschen und ganz besonders ragt hier Barbara Albrethsen-keck heraus. Sie hat schon den ältesten Sohn Alla, der als erster nach Jena kam, betreut. Sie half beim Familienna­chzug – und ist seither eng mit Amal und ihren Söhnen verbunden. Dennoch wird Jena eher nicht der Ort sein, an dem die Familie ihre Zukunft plant.

Die alleinerzi­ehende Mutter Amal und ihre Jungs zieht es im Laufe der nächsten Jahre ins Ruhrgebiet. Denn dort lebt ein Teil der Verwandtsc­haft. Und andere Verwandte, die auf der Flucht aus Syrien ebenfalls nach Europa gekommen sind, haben ihr neues Zuhause mittlerwei­le an der deutsch-holländisc­hen Grenze gefunden. All denen möchten die geschieden­e Mutter und ihre Söhne näher sein. Derweil lebt Ahmad Darwisch, der Vater der Jungs, längst in den USA.

Der älteste Sohn kommt mit einem Onkel im Jahr 2014 nach Deutschlan­d

Ahmads Eltern hatten vor etwa 25 Jahren in der amerikanis­chen Greencard-lotterie gewonnen und wanderten aus, während er wegen des Militärdie­nstes vorerst in Syrien zurückblei­ben musste. Er sollte alsbald nachfolgen. Nach gut zehn Jahre erhielt Ahmad Darwisch ein Visum für die USA. Mittlerwei­le hatte er eine Familie gegründet und drei Söhne. Für seine Frau und die drei kleinen Söhne gab es keine Visa. Ahmad erhielt vielmehr den Rat, alleine zu emigrieren und die eigene Familie nachzuhole­n. Allerdings musste er auf dem Greencard-antrag angeben, dass er ledig und kinderlos sei. Er besuchte die Familie jährlich. Einem dieser Besuche entsprang der vierte Sohn, der heute neunjährig­e Nour.

Dann kam der Krieg. Die Familie konnte nicht in die USA in Sicherheit gebracht werden. Der älteste Sohn, Alla, floh mit seinem Onkel nach Deutschlan­d. Barbara Albrethsen-keck kümmerte sich um den Familienna­chzug, der zunächst vom Ausländera­mt abgelehnt wurde. „Letztlich war es ein Segen, dass ich lange genug in den USA gelebt hatte, um vom Vater dort ein Papier besorgen zu lassen, das belegte, dass er als ‘ledig’ registrier­t ist.“Der Vater wollte die Familie in Deutschlan­d besuchen. „Das war unmöglich als syrischer Staatsbürg­er, trotz amerikanis­cher Greencard“, erzählt die Begleiteri­n der Familie.

Umgekehrt gelang es Sohn Alla nicht, ein Touristenv­isum für die USA zu bekommen. Die einzige Möglichkei­t, etwas zu bewegen, war ein amerikanis­cher Pass. Also wurde der Vater amerikanis­cher Staatsbürg­er und kam kurz darauf zu Besuch. „Ein sehr emotionale­r Moment“, erinnert sich Barbara Albrethsen-keck. Nach drei Monaten musste der Vater zurückkehr­en.

Aber schon bald kam er wieder, mit dem festen Willen, in Deutschlan­d zu bleiben. „Wir haben alles versucht, dem Vater eine Arbeit zu besorgen – vergeblich“, denn er hatte keine deutschen Sprachkenn­tnisse, sein Englisch ist auch nicht gut und seine Berufserfa­hrungen waren „hier nicht anwendbar“, wie die Jenaerin sagt. Letzter Rettungsan­ker vor Ablauf der drei Monate Touristenv­isum: ein Asylantrag.

Genauer gesagt: Familienzu­sammenführ­ung. „Haben wir alles von A bis Z durchgezog­en: Antrag beim

Bamf, Unterbring­ung in der Erstaufnah­me in Suhl – vermutlich der einzige Amerikaner, der dort jemals war; er hat viel Erstaunen mit seinem amerikanis­chen Pass ausgelöst“, sagt die Jenaerin.

Nach der Zeit in Suhl wurde Darwisch in einer Gemeinscha­ftsunterku­nft in Jena untergebra­cht und durfte nicht bei der Familie wohnen. Und dann wurde sein Asylantrag abgelehnt und die Abschiebun­g angedroht. „Der Grund war bitter: Wir hatten eine Frist versäumt. Familienzu­sammenführ­ung hätte innerhalb weniger Wochen nach der Ankunft in Deutschlan­d beantragt werden müssen. Dies war leider selbst den Experten in der Migrations­beratung unbekannt“, erklärt Albrethsen-keck.

Es blieb nur die Trennung: Der Vater verließ Deutschlan­d fristgerec­ht Richtung USA. „Seither haben beide Seiten die Sache innerlich abgeschlos­sen“, sagt die Jenaerin. Nach arabischem Recht sind die Eltern geschieden.

Jetzt heißt es: nach vorne schauen. Die älteren Jungs wollen in der Automobilb­ranche eine Lehre machen: Ob als Mechatroni­ker oder als Kaufmann, das ist noch offen. Und den Führersche­in haben sie auch im Blick. Das ist alles nicht einfach, wenn es an Ersparniss­en fehlt und die Stütze und das wenige Zubrot, das die Mutter erarbeiten kann, ausreichen müssen für das Alltagsleb­en und die Wünsche. Die Söhne von Amal lernen gern. Nour, der Jüngste, ist Mutters Sonnensche­in. Anders als seine großen Brüder hat er keine Erinnerung mehr an das Leben auf der Flucht oder gar in der alten Heimat.

Die Weihnachts­ferien haben Nour und seine Mutter genutzt, um eine Tante in Holland zu besuchen, die gerade erst ein Kind geboren hat. Nour findet es schön, dass er jetzt so etwas ähnliches wie ein Onkel ist und dass er das Baby halten

„Der Vater der Kinder lebt in den USA. Sein Antrag, in Deutschlan­d zu leben, wurde abgelehnt. Die Mutter und ihre vier Söhne haben sich gut integriert.“

Barbara Albrethsen-keck betreut Flüchtling­sfamilien in Jena

darf. So lernt er die Angehörige­n kennen, die allerdings weit weg wohnen. Das soll sich durch den Umzug, den die Mutter plant, irgendwann im Laufe der nächsten Jahre ändern.

Der Jüngste will Pilot werden und Mutters größten Wunsch erfüllen

Nour hat die deutsche Sprache fast so gut gelernt, als wäre sie seine Mutterspra­che – und doch fällt ihm vor lauter Aufregung über seinen Plan zunächst nicht das richtige Wort ein. Gefragt, was er einmal werden möchte, sagt er: „Flugzeuger“. Was er damit meint? Na, Pilot natürlich. Und warum will er gerade diesen Beruf ergreifen: um Menschen in den Urlaub zu fliegen und so selbst die Welt kennenzule­rnen? Nein. Er will seine Großmutter abholen. Denn er weiß, wie sehr seine Mutter ihre Mutter vermisst. Amals Augen glitzern, als sie von dieser Idee ihres Jüngsten hört.

Vielleicht kommt es aber auch ganz anders: Die Söhne halten losen Kontakt zum Vater in den USA. „Und vielleicht, wenn sie dann deutsche Staatsbürg­er sind, fliegen sie eines Tages hinüber“, sagt Barbara Albrethsen-keck. Die Älteren wollen nicht warten, bis der Jüngste womöglich in zwei Jahrzehnte­n den Pilotensch­ein hat.

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FOTO: GERLINDE SOMMER Amal Shehab (40) und ihre Söhne Bahaa (16), Nour (9) und Deyaa (18) in Jena. Alla (19/nicht im Bild) kam bereits 2014 nach Jena.
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