Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)
„Wir dürfen nicht im Schatten der Lügen leben“
Joe Biden gibt sich am Jahrestag der Erstürmung des Kapitols kämpferisch
In der vor Marmordenkmälern strotzenden National Statuary Hall des Kapitols in Washington werden nach einer Präsidentenwahl die feierlichen Mittagessen für die politische Eliten ausgerichtet. Als Joe Biden am Donnerstagmorgen ebendort ans Mikrofon trat, lag dagegen zwischenzeitlich Henkersmahlzeit-stimmung über dem ehrwürdigen Saal.
Am ersten Jahrestag der Erstürmung des Kongresses, als ein von Donald Trump animierter Mob die amerikanische Verfassung aus den Angeln heben wollte, stellte der Amtsinhaber beunruhigend klingende Fragen, die den Wiederholungsfall nicht ausschließen: „Werden wir eine Nation sein, die politische Gewalt als Regelfall akzeptiert? Werden wir eine Nation sein, die nicht im Licht der Wahrheit lebt, sondern im Schatten der Lügen? Werden wir eine Nation sein, in der wir es zulassen, dass parteiische Wahlhelfer den rechtmäßig zum Ausdruck gebrachten Willen des Volkes umstoßen?“
Bidens Appell an die Amerikaner klang fast flehentlich: „Wir dürfen uns nicht erlauben, so ein Land zu werden.“Dabei weiß der Präsident, dass die Republikaner in vielen Bundesstaaten gerade dabei sind, die Wahlgesetze so zu frisieren, dass ein demokratischer Wahlsieger schon bei den kommenden Präsidentschaftswahlen 2024 kaum eine Chance mehr hätte.
Anders als zuvor griff Biden seinen Vorgänger mehrfach frontal und aggressiv an. Trump „wollte die friedliche Übergabe der Macht verhindern“. Er hat „ein Netz von Lügen über die Wahlen geschaffen und verbreitet“. Sein „verletztes Ego“, das ihm wichtiger sei als Staat und Verfassung, könne nicht akzeptieren, „dass er verloren hat“. Als der Mob tobte, habe Trump „am Fernseher stundenlang zugesehen und nichts getan“. Dennoch halten über 50 Millionen Trump-amerikaner laut Umfragen Biden nicht für ihren rechtmäßigen Präsidenten. Dessen Kampfansage – „Ich werde nicht zulassen, dass der Demokratie noch einmal der Dolch an die Kehle gesetzt wird“– traf daher auf ein gespaltenes Auditorium.
Bis auf wenige Ausnahmen blieben Republikaner der Gedenkveranstaltung
fern. Sie werfen den Demokraten vor, den Jahrestag als „politische Waffe“zu nutzen, „um unser Land weiter zu spalten“.
Aufhorchen ließ zuvor eine Äußerung von Justizminister Merrick Garland. Er versprach, dass sein Ministerium „auf allen Ebenen“die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen werde. Ganz gleich, ob sie „vor Ort am Kapitol waren“– oder auf andere Art verantwortlich. Wenn Garland es ernst meine, sagt George Conway, der Ehemann des ehemaligen Trump-sprachrohrs Kellyanne Conway, müssten die Ermittlungen zum „Spiritus Rector“des 6. Januar 2021 führen – zum abgewählten Ex-präsidenten.