Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)
Warum musste Irina G. sterben?
Jeden Tag versucht in Deutschland ein Mann, seine Partnerin oder Ex-partnerin umzubringen
Der Tod von Irina G. flackert einmal auf, erschüttert und bewegt – und dann verschwindet ihr Leben ganz leise, wird vergessen. Wie so viele andere. Wie die Statistik, in die Irina G. nun einfließt.
Ende vergangenen Jahres war es wieder so weit. Die damalige Familienministerin Christine Lambrecht hält in Berlin ein Schild in die Fernsehkameras. Die Nummer des „Hilfetelefons“. Frauen sollen anrufen, wenn Partner oder Ex-partner sie schlagen, bedrohen, vergewaltigen. Statistisch gesehen versucht jeden Tag irgendwo in Deutschland ein Mann, seine Partnerin oder Expartnerin umzubringen. Jeden dritten Tag überlebt das Opfer nicht.
Als Lambrecht die Zahlen vorstellt, machen Meldungen die Runde. „Mehr Gewalt in Beziehungen“, titelt ein Sender. „Wenn Alltag zum Albtraum wird“, die Deutsche Welle. In den Tagen danach wird es wieder still, die Meldungen verhallen.
Auf dem Bürgersteig vor dem Parkplatz vertrocknet das Gedenken an Irina G. in der Hitze der Julisonne. Die Blumen, die Menschen hier abgelegt haben, verdörren wie das Gras neben dem Asphalt. Viele der Grabkerzen sind längst erloschen. Nur die Rosen aus Plastik blühen noch rot. „Es bleibt die Erinnerung“, steht auf einem silbernen Herzen. Aber bleibt sie wirklich?
Irina G. tat alles, was Frauen in Not geraten wird. Es half ihr nicht
Der Aldi-supermarkt hier im kleinen Schwalmstadt, gut 50 Kilometer südlich von Kassel, bietet gleich hinter der Schiebetür Spezialdünger im Angebot, daneben Hefeweizen in Dosen. Keine Spur mehr von der brutalen Gewalttat, bei der Irina G. ein paar Wochen zuvor ihr Leben verlor. Eine Discounter-mitarbeiterin verweist an die Pressestelle. Darüber reden will hier niemand.
Einen Monat zuvor, am 7. Juni gegen 13 Uhr, rettet sich Irina G. vom Parkplatz, wo ihr Wagen steht, noch in den Eingangsbereich des Aldi-marktes, ruft um Hilfe. Ihr Mörder, ein 58-Jähriger aus dem Raum Osnabrück, hat sie draußen abgefangen, folgt ihr jetzt. In der Filiale postiert sich der Leiter des Supermarktes noch vor G., will sie schützen. Doch der Ex-freund ist mit einer Pistole bewaffnet.
Irina G., bei ihrem Tod 53 Jahre alt, lebte noch nicht lange in Schwalmstadt. Sie war aus Nordrhein-westfalen hergezogen, ins Erdgeschoss eines dreistöckigen Hauses in einer feinen Wohngegend am Rande von Schwalmstadt.
Eine Nachbarin steht mit ihrem kleinen Kind im Hausflur. „Ich
kann nichts Schlechtes über sie sagen“, erzählt die junge Mutter. Man habe nicht viel geredet, aber immer mal wieder am Zaun kurz „gequatscht“. Meist über die Familie, Irina G.s Enkelkinder. Nachbarschafts-small-talk. Öfter habe die Nachbarin frühmorgens schon das Licht brennen gesehen in der Wohnung von Irina G. „Sie arbeitete viel.“
Im vergangenen Herbst lernt Irina G. über eine Datingplattform ihren späteren Mörder kennen. So werden es die Ermittler nach der Tat rekonstruieren. Nach wenigen Monaten trennt sie sich von ihm. Er aber will das nicht akzeptieren, ruft sie weiter an, schreibt Nachrichten über Whatsapp. Und der Mann sucht Irina G. zu Hause auf, fährt mehrfach die 200 Kilometer aus dem Norden nach Schwalmstadt. Steht vor ihrer Tür.
Am Abend vor ihrem Tod, um etwa 19 Uhr, setzt Irina G. einen Notruf ab. Er ist wieder da. Offenbar unangekündigt wolle er ein paar letzte persönliche Sachen abholen, so
hält es die Polizei später im Einsatzbericht fest. An dem Abend treffen die Beamten den Ex-freund im Hausflur an. Offenbar hatte er noch einen Schlüssel für die Haustür, aber nicht für die Wohnungstür.
Die Beamten sprechen mit der Frau offenbar darüber, dass sie eine Anzeige stellen könne. Der Polizeieinsatz
endet mit einem Platzverweis für den Mann. Nach 20 Minuten fahren die Beamten wieder ab.
Am Tag danach, dem 7. Juli gegen 13 Uhr, schießt er im Bereich zwischen den Kassen und dem Eingang des Aldi-markts vier Mal auf Irina G. Sie stirbt. Dann tötet er sich mit einem Kopfschuss selbst.
Einige Männer setzen Beziehung mit Besitz gleich
Man kann sagen, dass Irina G. alles richtig gemacht hat. So wie es Politikerinnen wie Lambrecht und Polizisten raten: Schlagt Alarm, wenn ihr von Männern bedroht werdet! Ruft die Polizei! Erstattet Anzeige! All das hat Irina G. getan. All das hat ihr nicht geholfen.
Irina G. hat das gemacht, was Studien zufolge nur wenige Betroffene tun: Sie hat ihren „Ex“angezeigt. Am Morgen des 7. Juli betritt Irina G. die Polizeistation in Schwalmstadt. Der Tatvorwurf der Anzeige: Stalking, Körperverletzung und Nötigung. Eine Polizistin notiert, wie Irina G. davon berichtet, dass ihr Ex-freund sie verfolge. Einmal, im April, soll er auch gewalttätig geworden sein, habe Irina G. den Arm auf den Rücken gedreht. Ob sie bedroht worden sei, fragt die Beamtin. Irina G. soll dies verneint haben. Der Mann habe eher gedroht, sich selbst etwas anzutun, wenn sie nicht zu ihm zurückkehre.
Den Entschluss von Irina G., sich von ihrem Freund zu trennen, nennen Kriminologen einen „Risikofaktor“für Gewalt. Die Trennung kann Aggressionen beim Verlassenen auslösen. Verliert er die Kontrolle über sein Verhalten, ist die Expartnerin in Gefahr. Femizid nennt man die Fälle, in denen die Frauen das nicht überleben.
Im Fall von Irina G. macht die Polizei keine Angaben zu den laufenden Ermittlungen. Die Staatsanwaltschaft sieht keine Anhaltspunkte dafür, dass die Polizisten Fehler gemacht hätten. Am Morgen, kurz vor der Tat, soll die Beamtin auf der Wache Irina G. beraten haben. Wie genau, ist unklar. Das hessische Landeskriminalamt gibt auf Nachfrage an, dass in einer „polizeilichen Verhaltensberatung“die Situation eines möglichen Gewaltopfers geprüft werde.
Nach dem Gewaltschutzgesetz können Frauen auch einen Antrag beim Familiengericht stellen. Dem Mann wird dann gerichtlich verboten, sich der Partnerin oder Ex-partnerin zu nähern. Ist ein Mensch nach Ansicht der Polizei konkret in Gefahr, greife das „Hochrisikomanagement für Gewalt im sozialen Nahraum“. Als Maßnahme könnte eine Frau in ein betreutes Frauenhaus ziehen. So weit die Theorie.
Fälle werden oft nur als Totschlag gewertet
In der Praxis beklagen Fachleute seit Jahren fehlende Plätze bei Beratungsstellen. Oft sind die Einrichtungen auf Kante finanziert, häufig zahlen die Betroffenen für ihren Aufenthalt selbst. Sofern sie einen Platz bekommen im Frauenhaus – immer wieder müssen Schutzsuchende abgewiesen werden. „Es muss viel mehr Geld ins Unterstützungssystem“, sagt etwa Katharina Göpner, Geschäftsführerin des Bundesverbands der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland (BFF).
Und es geht nicht nur um Geld, sondern auch um Worte. Der Deutsche Juristinnenbund kritisiert, dass die Tötungsdelikte an Frauen durch Ex-partner häufig nicht als Mord, sondern als Totschlag verurteilt würden. Der Grund: Gerichte werten den „Wunsch des Täters“, über das Leben der Frau zu bestimmen, als „vulnerablen emotionalen Zustand“. Für Mord aber braucht es niedrige Beweggründe.
Zur Erdgeschosswohnung von Irina G., oben auf dem Hügel über Schwalmstadt, gehört ein kleiner Garten. Dort stehen noch ein Vogelhäuschen und eine Kinderschaukel, ein paar Gartenzwerge auf dem Rasen. Und mitten auf der Terrasse stehen nun alte Möbel, Regale aus weißem Holz, Schränke, ein Stuhl. Jemand hat die Räume der Wohnung von Irina G. leer geräumt.