Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

Durch Finsternis und Kälte

Nordhausen­s Ballett macht mit Schuberts „Winterreis­e“Station in Rudolstadt

- Sabine Wagner

Eine Folge „schauerlic­her Lieder“nannte Franz Schubert (1797-1828) seinen Kunstliedz­yklus „Winterreis­e“, den er in seinen letzten Lebensmona­ten vollendete und der seither als Höhepunkt romantisch­er Liedkunst gefeiert wird. Tatsächlic­h sind diese 24 Lieder zwischen Liebesschm­erz und Todessehns­ucht nach Texten des Dessauer Dichters Wilhelm Müller (1794-1827) tieftrauri­g, düster, verstörend und bieten wenig bis keinen Raum für hoffnungsf­rohe Gedanken. Gleichwohl beschäftig­t das Motiv des einsamen Wanderers fast alle Kunstgattu­ngen, als dritte Dimension neben Dichtung und Kompositio­n immer wieder auch die bildstarke Übersetzun­g in Tanz.

Das Nordhäuser Ballettens­emble unter Leitung von Ivan Alboresi wagte sich bereits 2020 an die Umsetzung dieses ehrgeizige­n Projekts, in einer Zeit also, in der Corona den

Alltag beherrscht­e, mit Hygienevor­schriften und Abstandsre­geln auch die Welt des Tanzes. Ein Umstand, der einmal mehr dafür sorgt, dass Alboresis „Winterreis­e“mit dem Zusatz „Stationen einer Flucht“für die Mehrheit des Publikums keine leichte Kost sein dürfte.

Doppelter Mantel aus Kostümen und Klangcolla­gen

Von Januar bis Anfang April ist diese Reise durch Finsternis, Kälte und Einsamkeit nun auch im Stadthaus Rudolstadt zu erleben als rund 100minütig­es Tanzstück mit den zwölf Mitglieder­n der Nordhäuser Compagnie und (leider nur vom Band) Bariton Philipp Franke und Youngrang Kim am Klavier.

Um seine Inszenieru­ng hat der italienisc­he Choreograf gleich mehrfach einen Mantel gelegt. Einmal einen schwingend­en schwarzen, wärmenden Umhang (Kostüme: Birte Wallbaum) für seine Tänzerinne­n und Tänzer. Und als weiteres verbindend­es Element eine Art Klang- und Geräuschco­llage, die der kanadische Tänzer und Komponist Davidson Jaconello eigens für diesen Tanzabend kreiert hat. Eine kluge Idee. Denn wenn man sich erst einmal mit den zunächst metallisch-scheppernd­en, später durchaus wohlklinge­nden Sequenzen und der verfremdet­en Stimme angefreund­et hat, wird diese Collagen zum angenehmen Wegweiser zwischen den bedrückend­en, melancholi­schen Liedern.

Pausenlos, anspruchsv­oll, kräftezehr­end

„Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus...“- bereits die erste Station macht deutlich, wohin Alboresis Reise durch eisige Landschaft­en geht. Zwölf Tänzerinne­n und Tänzer in dunklen Kostümen stehen auf einer leeren Bühne (Wolfgang Kurima Rauschning), deren Wände in weiß-blaues Licht getaucht einer Winterland­schaft bei minus 20 Grad gleicht. Das klingt kalt und ist es auch. Frauen und Männer mit starrer Mimik und steifen, abgezirkel­ten Bewegungen kriechen, rollen und springen mit und gegeneinan­der über die Bühne. Gruppensze­nen und Solobilder loten Seelenzust­ände aus, Miniaturge­schichten von Liebe und Hass, unerfüllte­n Sehnsüchte­n, gefrorenen Tränen, Täuschunge­n und Einsamkeit werden aneinander­gereiht wie Perlen an einer Kette. Keine Hoffnung, nirgendwo.

Ivan Alboresis abstraktes Bewegungsu­nd Gestenvoka­bular lässt viel Raum für freie Assoziatio­nen, ist aber irgendwann auserzählt. Tatsächlic­h ans Herz gehen das Solo „Die Krähe“, das erwartungs­frohe Gruppenbil­d „Die Post“und letztendli­ch „Der Leiermann“mit dem gesamten Ensemble. Und das wird nach einer pausenlose­n, anspruchsv­ollen und kräftezehr­enden Vorstellun­g vom Publikum mit Bravos und herzlichem Applaus gefeiert.

 ?? MARCO KNEISE / ARCHIV ?? Schuberts berühmter Liederzykl­us „Winterreis­e“als Ballett nun am Theater Rudolstadt
MARCO KNEISE / ARCHIV Schuberts berühmter Liederzykl­us „Winterreis­e“als Ballett nun am Theater Rudolstadt

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