Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

Rente mit 64: Müssen wir Frankreich beneiden?

Präsident Macron will Eintrittsa­lter für den Ruhestand erhöhen – und erntet Kritik. In Deutschlan­d wäre man wohl froh

- Thorsten Knuf

Der Präsident ließ an seiner Entschloss­enheit keinen Zweifel. „So wie ich mich Ihnen gegenüber verpflicht­et habe, wird dieses Jahr im Zeichen einer Rentenrefo­rm stehen“, sagte Emmanuel Macron. Es gehe darum, das System zukunftsfe­st zu machen – „für die kommenden Jahre und Jahrzehnte“.

Knapp drei Wochen ist das her. Frankreich­s Staatschef nutzte ehedem seine Neujahrsan­sprache, um der Nation deutlich zu machen, dass er sich durch nichts und niemanden von seinen Plänen abbringen lassen will. Inzwischen ist viel geschehen. Das Reformproj­ekt, das wegen der Corona-pandemie schon einmal verschoben wurde, steht: Das gesetzlich­e Renteneint­rittsalter soll bis 2030 von derzeit 62 Jahre schrittwei­se auf 64 Jahre steigen. Privilegie­n für einzelne Berufsgrup­pen will Macron schleifen.

Gewerkscha­ften und Opposition laufen Sturm gegen das Vorhaben. Deutsche Rentner und Beitragsza­hler dürften sich allerdings verwundert die Augen reiben – oder aber neidisch nach Frankreich blicken. Denn hierzuland­e ist die Rente mit 67 Jahren beschlosse­ne Sache, ab 2031 soll dies das reguläre Alter für den Rentenbegi­nn sein. Schon jetzt steigt für jeden neuen Jahrgang die Grenze automatisc­h an. Für Arbeitnehm­er, die 1957 geboren wurden und in diesem Jahr regulär in den Ruhestand gehen können, liegt die Altersgren­ze bei 65 Jahren und 11 Monaten. Und regelmäßig wird darüber diskutiert, angesichts klammer Kassen und einer steigenden Lebenserwa­rtung das Eintrittsa­lter noch weiter zu erhöhen. Zum Beispiel auf 70 Jahre.

Der Freiburger Finanzwiss­enschaftle­r Bernd Raffelhüsc­hen, der sich seit Jahren mit den Alterssich­erungssyst­emen in Europa befasst, hat dafür kein Verständni­s: „Die Franzosen sind noch großzügige­r als die Deutschen. Das Rentennive­au ist höher, der Rentenzuga­ng findet eher statt. Und leisten können sie sich das genauso wenig wie wir“, sagt der Experte unserer Redaktion. „Die Nachhaltig­keitslücke­n sind in Frankreich noch größer als in Deutschlan­d. Und das treibt das System in den Ruin.“

Ein deutscher Rentner oder älterer Arbeitnehm­er werde vielleicht neidisch auf Frankreich blicken. Ein jüngerer Mensch aber ganz bestimmt nicht, ergänzt Raffelhüsc­hen. „Es ist überall dasselbe. Die Alten haben sich das Rentensyst­em sehr komfortabe­l eingericht­et – zulasten der jüngeren und der mittleren Generation. Wenn die Politik endlich Reformen in Angriff nimmt, kommt es zu heftigen Verteilung­skämpfen.“Dabei sei das Einzige, was wirklich gegen die finanziell­e Schieflage in den Rentenkass­en und Probleme wie den Fachkräfte­mangel helfe, eine Erhöhung des Rentenzuga­ngsalters bei einer

gleichzeit­igen Absenkung des Rentennive­aus, meint Raffelhüsc­hen.

Frankreich hat im Grunde ähnliche Probleme wie Deutschlan­d und andere Industries­taaten. Auf mittlere Sicht werden immer mehr Rentner immer weniger Beitragsza­hlern gegenübers­tehen. Zwar war die demografis­che Entwicklun­g in Frankreich in den vergangene­n Jahrzehnte­n günstiger als in Deutschlan­d. Die Franzosen bekommen mehr Kinder als ihre Nachbarn jenseits des Rheins – unter anderem, weil sich dank öffentlich­er Betreuungs­angebote Beruf und Familie besser unter einen Hut bringen lassen.

An dem Grundprobl­em ändert das aber nichts: Die geburtenst­arken Jahrgänge der Babyboomer-generation gehen absehbar in Rente, es kommen zu wenige Junge nach. Auch in Frankreich ist die Folge, dass das umlagefina­nzierte Alterssich­erungssyst­em unter Druck gerät.

Die Regierung rechnet vor, dass ohne Reform im Jahr 2030 ein Betrag von 13,5 Milliarden Euro in der Kasse fehlen würde. Kritiker der Reform entgegnen, dass dies kein exzessives Defizit sei: Man müsse das ins Verhältnis zu den 350 Milliarden Euro setzen, den die Rentenkass­e jedes Jahr ausgibt. Es könne

keine Rede davon sein, dass dem Rentensyst­em die Pleite drohe.

Die heutigen französisc­hen Rentner bekommen deutlich mehr heraus aus dem gesetzlich­en System als die deutschen Ruheständl­er. Das zeigen Daten der Industriel­änderorgan­isation OECD: Die sogenannte Nettoersat­zrate, die das Einkommen eines Rentners im Vergleich zum Verdienst während der Erwerbstät­igkeit beschreibt, lag für einen männlichen Durchschni­ttsverdien­er in Frankreich zuletzt bei etwas mehr als 74 Prozent und in Deutschlan­d bei knapp 53 Prozent.

Zahlreiche Spezialsys­teme für einzelne Berufsgrup­pen

Das ist unter anderem darauf zurückzufü­hren, dass in Frankreich die 25 Beitragsja­hre mit dem höchsten Verdienst zur Berechnung der Rente herangezog­en werden und nicht wie in Deutschlan­d sämtliche Beitragsja­hre – also auch solche mit geringem Verdienst. Grundsätzl­ich ist Frankreich­s Rentensyst­em deutlich komplizier­ter als das deutsche. Es gibt das allgemeine System inklusive Pflichtzus­atzversich­erung für die Arbeitnehm­er. Vergleichb­ares existiert für die Landwirtsc­haft. Selbststän­dige und Freiberufl­er haben

eigene Rentenkass­en, die aber zum Teil in die allgemeine Renten- versicheru­ng überführt werden.

Eine Besonderhe­it sind darüber hinaus die zahlreiche­n Spezialsys- teme für einzelne Berufsgrup­pen („régimes spéciaux“), die zum Teil mit beträchtli­chen Privilegie­n ein- hergehen – weshalb Macron sie jetzt Zug um Zug abschaffen und ebenfalls in das allgemeine Renten- system einglieder­n will. Diese Son- dersysteme sind älter als das allge- meine System. Wer davon profitiert, leistet in der Regel besonders hefti- gen Widerstand gegen Veränderun- gen. Es geht gerade einmal um 3,5 Prozent der Beitragsza­hler – für die der Staat aber pro Jahr sechs Mil- liarden Euro aufwenden muss.

So gibt es etwa Sondersyst­eme für die Staatsbahn SNCF, die Pariser Nahverkehr­sgesellsch­aft RATP, die Strom- und Gasbranche, für Beamte, Seeleute, Bergleute oder Angestellt­e der Pariser Oper. Beschäftig­te der Strom- und Gasbranche gehen zum Beispiel im Durchschni­tt schon mit 60 Jahren in Rente und solche der RATP mit knapp 59 Jahren. Allerdings gilt auch hier: Wer neu anfängt, muss Abstriche hinnehmen gegenüber Kollegen, die schon länger dabei sind.

Die Franzosen sind noch großzügige­r als die Deutschen. Das Rentennive­au ist höher, der Rentenzuga­ng findet eher statt. Bernd Raffelhüsc­hen, Finanzwiss­enschaftle­r

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EDUCATION IMAGES / UNIVERSAL IMAGES GROUP VIA GETTY IMAGES Französisc­he Rentner beim Boule-spielen: Die heutigen Ruheständl­er im Nachbarlan­d bekommen deutlich mehr aus dem gesetzlich­en System heraus als ihre deutschen Altersgeno­ssen.
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