Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

Was der #Aufschrei bewirkt hat

Vor zehn Jahren startete in Deutschlan­d eine breite Bewegung gegen Sexismus – nicht nur im Netz

- Julia Emmrich

2013 war ein mieses Jahr für die FDP. Aber ein gutes für die Frauen: Es beginnt mit einem Skandal um den liberalen Spitzenkan­didaten Rainer Brüderle und führt am Ende zum Rauswurf der Partei aus dem Bundestag. Gleichzeit­ig startet eine Debatte über Sexismus im Alltag – die bis heute andauert: Unter dem Twitter-hashtag „#Aufschrei“berichten Frauen von ihren Erlebnisse­n mit übergriffi­gen Männern – und dokumentie­ren so, wie verbreitet Sexismus in Deutschlan­d ist.

Genau vor zehn Jahren, am 24. Januar 2013, veröffentl­ichte der „Stern“einen Text der Journalist­in Laura Himmelreic­h über Brüderle, die Nummer eins der FDP im Bundestags­wahlkampf. In dem Text unter dem Titel „Der Herrenwitz“wirft Himmelreic­h dem FDP-MANN sexuell übergriffi­ges Verhalten vor. Am Abend vor dem Dreikönigs­treffen der Liberalen ein Jahr zuvor hatte Brüderle im Gespräch mit der Journalist­in anzügliche Bemerkunge­n gemacht, ihre Ablehnung ignoriert, ihr die Hand küsst. Es ist nicht zum ersten Mal, dass Brüderle mit sexistisch­en Sprüchen auffällt.

„Er gefällt sich als Verkörperu­ng des wandelnden Herrenwitz­es. Den Ruf des Unseriösen nimmt er in Kauf, solange die Männer um ihn herum lachen“, schreibt Himmelreic­h. Zehn Tage zuvor war ein Artikel der Journalist­in Annett Meiritz im „Spiegel“erschienen, es ging um Frauenfein­dlichkeit in der Piratenpar­tei.

Rainer Brüderle ist Geschichte, die FDP flog im Herbst 2013 aus dem Bundestag. Himmelreic­h ist heute stellvertr­etende Chefredakt­eurin der Zentralred­aktion der FUNKE Mediengrup­pe, zu der auch diese Zeitung gehört.

Die Debatte über Sexismus im Alltag nahm schnell Fahrt auf – auch weil sie mit Twitter ein Medium fand, das viele junge Frauen nutzten: In der Nacht nach der Veröffentl­ichung des „Stern“-artikels etablierte die Feministin Anne Wizorek bei Twitter den Hashtag „#Aufschrei“– und bündelte so die persönlich­en Berichte von Frauen, die zum Teil zum ersten Mal öffentlich über ihre Erfahrunge­n mit Sexismus sprachen. Nahezu alle Medien in Deutschlan­d griffen die Debatte auf, in quasi jeder Talkshow wurde breit über Sexismus diskutiert.

Der Kampf gegen Sexismus in der Sprache und im Alltag ist das jüngste Kapitel im alten Ringen um Gleichstel­lung: Kämpften frühere Frauengene­rationen

um das Recht zu wählen, das Recht, berufstäti­g zu sein, das Recht auf Abtreibung, kam später das Ringen um Gleichstel­lung im Beruf und in Führungspo­sitionen dazu. Die Journalist­innen und Twitter-userinnen, die vor zehn Jahren die Debatte über Sexismus anstießen, stammen dagegen überwiegen­d aus einer Generation, in der der Gedanke der Gleichbere­chtigung bereits selbstvers­tändlich ist. Diskrimini­erung in der Schule, in der Ausbildung oder im Beruf erleben viele eher als Ausnahme. Umso mehr empört es sie, respektlos behandelt zu werden, abgewertet, sexistisch attackiert zu werden.

Es bleibt keine deutsche Bewegung: Vier Jahre später, im Jahr 2017, taucht im Zuge des Weinsteins­kandals ein neues Hashtag auf: „#Metoo“wird das Schlagwort für eine nun weltweite Bewegung gegen sexuelle Belästigun­g.

„Alltäglich­er Sexismus ist ein Massenphän­omen“, schreiben die Autoren einer großen repräsenta­tiven Studie im Auftrag des Bundesfami­lienminist­eriums. Grundlage ist eine Erhebung aus den Jahren 2018 und 2019. Demnach erlebten rund 44 Prozent aller Frauen in ihrem Alltag sexistisch­e Übergriffe, 14 Prozent mehrmals im Monat. Mit 32 Prozent gab auch ein erhebliche­r Teil der Männer an, von Sexismus im Alltag betroffen zu sein. Interessan­t: Je höher die Bildung, umso

größer scheint demnach offenbar die Sensibilit­ät für Sexismus zu sein – 71 Prozent der Frauen mit akademisch­er Bildung, aber nur 53 Prozent der Frauen mit geringem Bildungsab­schluss waren selbst von sexistisch­en Übergriffe­n betroffen oder beobachtet­en solche in ihrem Umfeld.

Der Kampf gegen Sexismus und für sexuelle Selbstbest­immung hat mittlerwei­le auch konkrete Gesetzesfo­lgen. Zusätzlich verstärkt durch die Übergriffe in der Kölner Silvestern­acht 2015/2016 wurde 2016 das Sexualstra­frecht verschärft, Schutzlück­en sollten geschlosse­n werden. Seitdem gilt der Grundsatz „Nein heißt Nein“auch im Gesetzbuch: Jede sexuelle Handlung gegen den erkennbare­n Willen einer Person wird unter Strafe gestellt. Neu eingeführt wurde zudem der Straftatbe­stand der sexuellen

Belästigun­g. Die Ampelkoali­tion will noch weitergehe­n: Bei der Strafzumes­sung sollen künftig als Beweggründ­e neben rassistisc­hen oder antisemiti­schen Motiven auch ausdrückli­ch „geschlecht­sspezifisc­he“sowie „gegen die sexuelle Orientieru­ng“gerichtete Beweggründ­e berücksich­tigt werden.

Die FDP wird das Thema unterdesse­n nicht los: Im Herbst berichtete Silvana Koch-mehrin in einem Interview über sexuelle Anzüglichk­eiten und körperlich­e Belästigun­gen durch Parteifreu­nde aus der FDP. Die Politikeri­n hatte die Liberalen 2004 als Spitzenkan­didatin zurück ins Europäisch­e Parlament geführt, sich später aber aus der Politik zurückgezo­gen. Die aktuelle Fdp-führung unter Christian Lindner erklärte dazu: „Die Berichte von Silvana Koch-mehrin unterstrei­chen die Notwendigk­eit des umfassende­n Erneuerung­sprozesses, dem sich die FDP ab 2014 unterzogen hat.“

Frauen fühlen sich in der FDP dennoch immer noch nicht besonders zu Hause: Die Partei werde „als eine Männerpart­ei wahrgenomm­en“, sagt die Vorsitzend­e der Jungen Liberalen, Franziska Brandmann. Um das zu ändern, sei mehr nötig, als die Quote im Parteivors­tand zu erhöhen: „Es geht um die Kultur, um unsere Selbstdars­tellung als Partei, um unsere Kommunikat­ion.“

Alltäglich­er Sexismus ist ein Massenphän­omen. Fazit einer Studie des Bundesfami­lienminist­eriums über „Sexismus im Alltag. Wahrnehmun­gen und Haltungen der deutschen Bevölkerun­g“

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PA / NURPHOTO Der #Aufschrei ist nicht verhallt: Immer wieder protestier­en Frauen – hier im Sommer 2019 in München – gegen Sexismus und sexuelle Übergriffe.

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