Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)
Die Zukunft des Ukraine-krieges
Westliche Geheimdienste und Militärs sind besorgt über Informationen aus Moskau – und erwarten eine neue russische Offensive mithilfe von Belarus
Berlin/brüssel. Es gab Kriegstage, da roch es für die Ukraine nach dem, was fast alle Fachleute nie für möglich gehalten hatten: Die ukrainische Armee könnte die russischen Streitkräfte aus ihrem Land vertreiben. Die Rückeroberung der südukrainischen Metropole Cherson im November war so ein Tag. Ein Moment des möglichen Sieges der Ukraine in diesem Krieg.
Die Prognosen der Sicherheitsbehörden sind mittlerweile deutlich vorsichtiger, Zweifel und Sorgen über die Lage der Ukraine und deren Armee werden lauter. Die Aussicht der westlichen Geheimdienste und Militärs auf den bevorstehenden Kriegsfrühling ist brisant – und verheißt für Kiew nichts Gutes.
Immer wieder spricht unsere Redaktion seit Kriegsbeginn mit Nachrichtendienstlern und Militärs, in vielen Fällen können die Informationen öffentlich gemacht werden, nur ohne Nennung der Quelle. Oft sind Informationen auch Teil einer Strategie in einem Krieg in der Ukraine, in dem es auch um die Hoheit über die Nachrichtenlage geht. Es ist das Tagesgeschäft in der Welt der Geheimdienste.
Vor allem eines ist aktuell brisant: das schwindende ukrainische Kriegsgerät und die Mangelware Munition. Us-fachleute analysieren an manchen Kriegstagen einen Verbrauch von 10.000 Schuss Artillerie. Gerade die für den Kriegsverlauf zentrale Munition für die Abwehr russischer Raketen und Drohnen im Luftraum reicht nur noch für wenige Monate. Auf der anderen Seite halten Fachleute die russische Armee zwar für stark geschwächt, doch zugleich ist das Reservoir an Soldaten und Kriegsgerät um ein Vielfaches höher als das der Ukraine. „Russland kann diesen Krieg noch lange führen, wenn Putin will“, sagt ein Fachmann in einer westlichen Sicherheitsbehörde. Und für Putin sei ein schlechter Krieg immer noch besser als Frieden, sagt Gustav Gressel, Militärexperte vom European Council on Foreign Relations (ECFR).
Potenziell könnten 20 Millionen Russen unter Waffen stehen
Aktuell bildet das russische Militär geschätzt zwischen 200.000 und 300.000 Rekruten für den Dienst in der Armee aus. Potenziell könnten 20 Millionen Menschen in Russland unter Waffen stehen – die Hälfte der ukrainischen Gesamtbevölkerung. Inzwischen hat auch die offizielle Rhetorik gewechselt, statt von „Spezialoperation“spricht selbst Putin nun von „Krieg“. Diesen Kurswechsel werten Fachleute im Westen als Indiz für eine Mobilmachung, die auf Dauer und Masse angelegt ist. Leeren sich die Ausbildungslager
der Armee in Russland wieder, ist eine weitere Mobilmachung von mehr als 200.000 Soldaten ein realistisches Szenario. „Wir haben keinerlei Anzeichen, dass sich Putins Ziele verändert haben, also letztlich die Ukraine zu zerstören“, sagt ein ranghoher Sicherheitsexperte. Ähnlich äußert sich Nato-generalsekretär Jens Stoltenberg öffentlich: „Es ist mit einem langen Krieg zu rechnen.“
Derzeit sind drei Frontabschnitte entscheidend für den Kriegsverlauf im Frühjahr: Erstens, die Kämpfe um die Stadt Bachmut. Russische Besatzungstruppen und ukrainische Verteidiger haben sich hier am Montag erneut schwere Kämpfe geliefert. Die russischen Angriffe seien unter schweren Verlusten abgeschlagen worden, teilte der ukrainische Generalstab in Kiew am Abend mit. Fachleute und Geheimdienste streiten über die Frage, wie klug die Verteidigung der Linie am Donbass ist. Für das Us-institute for the Study of War ist Bachmut eine Schlüsselstelle, um Russlands Vormarsch zu stoppen. Ein Us-militär rät Kiew dagegen, sich auf eine große ukrainische Gegenoffensive im Frühjahr zu konzentrieren. Zweitens,
etwas nördlich von Bachmut erlebt die Ukraine aktuell die schwersten Kämpfe rund um die Stadt Kreminna. Drittens: Das russische Militär spricht von einer Intensivierung der Kämpfe in der zentralen Region Saporischschja. Nach Vorstößen der russischen Einheiten sei inzwischen eine Umgruppierung und Neuaufstellung von Einheiten auf ukrainischer Seite beobachtet worden, berichtete die Staatsagentur Tass..
Mit einem schnellen Vormarsch von Putins Armee rechnen Natoexperten nicht. Zu gering sei deren personelle Schlagkraft, auch der Nachschub an Kriegsgerät brauche Zeit. Die Logistik war einer der Schwachpunkte des russischen Militärs. Zugleich aber sehen Nachrichtendienste kaum Anzeichen, dass die Ukraine aktuell in der Lage wäre, russische Truppen auf breiter Front aus den besetzten Gebieten zu vertreiben. Das deckt sich mit der Äußerung von Us-generalstabs- chef Mark Milley, aus militärischer Sicht sei es „sehr, sehr schwierig“, in diesem Jahr die russischen Streit- kräfte aus „jedem Zentimeter“der Ukraine zu vertreiben. Das britische Verteidigungsministerium schreibt: „Alles in allem befindet sich der Konflikt in einer Sackgasse.“Eine eingefrorene Front wäre das größte Sicherheitsrisiko für die Ukraine. Denn dann würde auch das Interes- se des Westens nachlassen. Und da- mit auch die Waffenlieferungen.
Dass Russland eine große Offensi- ve vorbereitet, halten Fachleute für wahrscheinlich. Ein Blick geht nach Belarus. Die autoritäre Regierung in Minsk ist mit Putin verbündet. Aktu- ell sind dort 10.000, vielleicht schon 15.000 russische Soldaten statio- niert. Für einen Angriff in Richtung Kiew ist das zu wenig. Zugleich baut Putin seine Truppen in Belarus offenbar weiter auf. Denkbar: Der Angriff aus der Luft auf die Westukraine, dort, wo der Westen die Militärgüter aus Polen in Richtung Ostukraine transportiert. Auch weitere Angriffe mit Raketen und Drohnen aus Belarus sind denkbar. Bis Kiew sind es von der Grenze nur 100 Kilo- meter Luftlinie.