Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)
Erdogans Kampf um die Macht
Die Wahlen im Mai entscheiden über das Schicksal des türkischen Staatschefs – und den Kurs des Landes
Ankara. Lange wurde gerätselt, jetzt steht der Termin der diesjährigen Parlaments- und Präsidentenwahl fest. In einer Rede vor seiner Regierungsfraktion nannte Staatschef Recep Tayyip Erdogan den 14. Mai für den Urnengang. Die Wahl wird zu einer Weichenstellung: Bestätigen die Wählerinnen und Wähler den 69-jährigen Erdogan für weitere fünf Jahre im Amt, könnte er seine zunehmend autoritäre Herrschaft zementieren und seine Machtfülle weiter ausbauen. Die Türkei würde sich vermutlich noch weiter vom Westen entfernen und könnte zur Diktatur werden.
Verliert Erdogan, wollen die heutigen Oppositionsparteien das ganz auf ihn zugeschnittene Präsidialsystem wieder abschaffen, zur parlamentarischen Demokratie zurückkehren und die demokratischen Institutionen stärken. Auch in der EU und der Nato wird die bevorstehende Wahl aufmerksam beobachtet. Erdogan-kritiker hoffen, dass mit einem Machtwechsel in Ankara die türkische Außenpolitik wieder berechenbarer wird.
Seit 20 Jahren bestimmt Erdogan die Geschicke der Türkei. Er hat sechs Parlamentswahlen, drei Volksabstimmungen und zwei Präsidentenwahlen gewonnen. Aber jetzt spürt er Gegenwind. In einer Umfrage des Instituts ORC von Anfang Januar liegt Erdogans islamisch-konservative Regierungspartei AKP nur noch bei 32 Prozent, gegenüber 42,6 Prozent bei der Wahl 2018. Auch bei der gleichzeitig stattfindenden Präsidentenwahl muss Erdogan um seine Mehrheit fürchten.
Die schwachen Umfragewerte sind vor allem der schwierigen Wirtschaftslage geschuldet. Die Inflation erreichte im Oktober mit 85,5 Prozent ein 24-Jahres-hoch. Aktuell liegt sie offiziell bei 64,3 Prozent. Die Teuerung zehrt an den Einkommen und treibt immer mehr Menschen in die Armut. Dabei war die Wirtschaft einst Erdogans Trumpfkarte: Zwischen 2002 und 2012 verdreifachte sich das statistische Prokopf-einkommen von 3700 auf 11.800 Dollar. Für das Jahr 2023 versprach Erdogan vor zehn Jahren einen Anstieg auf 25.000 Dollar. Stattdessen ist das Pro-kopf-einkommen unter die Marke von 10.000 Dollar gefallen. Früher galt Erdogan als „Vater des türkischen Wirtschaftswunders“. Jetzt ist die Ökonomie zu seiner Achillesferse geworden.
Aber die Opposition tut sich schwer, Erdogans Schwächen für sich zu nutzen. Sechs Oppositionsparteien haben sich zu einem Wahlbündnis zusammengeschlossen. Mit vereinten Kräften wollen sie Erdogan besiegen. Doch bisher hat
sich der „Tisch der Sechs“, wie sich die Allianz nennt, nicht mal auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen können. Unterdessen zieht Erdogan im Wahlkampf alle Register: Er erhöht die Bezüge der Staatsbediensteten um 30 Prozent und den Mindestlohn um 55 Prozent, verspricht mit dem Programm „Mein neues Zuhause“subventionierte Wohnungsbaukredite, stellt überschuldeten Familien einen Schuldenerlass in Aussicht und beglückt Millionen Menschen mit einer Rentenreform: Künftig können
die Türkinnen und Türken schon nach rund 23 Jahren Arbeit in Pension gehen.
Zugleich präsentiert sich Erdogan seinen Anhängern als furchtloser Anführer, der dem Nachbarn Griechenland mit Krieg droht und die Nato mit seinem Veto gegen die Norderweiterung vor sich hertreibt. Vor allem der Streit mit Schweden um den Beitritt zur Allianz spielt Erdogan in die Karten.
Als am vergangenen Sonnabend der rechtsextreme Aktivist Rasmus Paludan vor der türkischen Botschaft
in Stockholm einen Koran verbrannte, loderten in Ankara die Flammen der Empörung. Ein Sprecher Erdogans geißelte die Koranverbrennung als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Das türkische Außenministerium verurteilte „den abscheulichen Angriff auf unser heiliges Buch“aufs Schärfste. Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar lud seinen schwedischen Kollegen Pal Jonson, der an diesem Freitag nach Ankara reisen wollte, wieder aus.
Schweden und Finnland hatten nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im vergangenen Mai die Aufnahme in die Nato beantragt. Damit sie vollzogen werden kann, müssen die Parlamente aller 30 Mitgliedsländer zustimmen. Zwei Ratifizierungen stehen noch aus. Ungarn hat die Abstimmung für Februar angekündigt. Aber die Zustimmung der Türkei rückt nun wieder in die Ferne.
Die Verbrennung des Korans ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sprecher des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan
Den jüngsten Konflikt mit Schweden will Erdogan innenpolitisch nutzen. Vier Monate vor der Parlaments- und Präsidentenwahl kann er sich seinen Landsleuten als starker Führer präsentieren, der die Nato vor sich hertreibt und die Werte des Islam verteidigt. Das dürfte ihm den Beifall der religiös-nationalistischen Wählerschaft einbringen.
Am Donnerstag wollen die Oppositionsparteien erneut über die Kandidatenfrage beraten. Es ist eine sehr heterogene Allianz, die sich nur schwer Gehör verschaffen kann. Mehr als 90 Prozent der Medien sind in der Hand regierungsnaher Unternehmer. Durch ein kürzlich verabschiedetes Maulkorbgesetz drohen bei Verbreitung von „Fake News“langjährige Haftstrafen. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 hat Erdogan seine Macht weiter zementiert. Zehntausende Oppositionelle und Bürgerrechtler sitzen hinter Gittern.
Erdogan dürfte alles daransetzen, diese Wahl zu gewinnen. Wenn er sie verliert, droht ihm nicht nur der Verlust der Macht. Dann könnten auch Korruptionsaffären und Bereicherungsvorwürfe aus früheren Jahren wieder auf die Tagesordnung kommen. Manche Oppositionelle fragen sich deshalb besorgt, ob Erdogan eine Wahlniederlage überhaupt akzeptieren wird.