Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)
„Mein Bild von Polizei hat sich sehr geändert“
Thüringens evangelischer Polizeipfarrer geht in den Ruhestand – und blickt kritisch auf die Rolle der eigenen Kirche
Jena. Der Jenaer Pfarrer Jochen Heinecke war seit 2015 als Polizeipfarrer der evangelischen Kirche Gesprächspartner, Ratgeber aber auch Seelsorger für die Beamtinnen und Beamten in Thüringen.
Herr Heinecke, was hat Sie als Polizeiseelsorger beflügelt?
Mein Leben bestand aus vielen kleinen, schönsten Ereignissen. Es gab auch große, schlimmere Erlebnisse, aber das Entscheidende waren kleine, schöne Ereignisse. Wenn Menschen mit mir gesprochen haben, mir gesagt haben: Ich erzähle dir, was mir wichtig ist. Ich will das mit dir bedenken, hören, was du dazu sagst. Das sind die entscheidenden, wirklich schönen Erlebnisse, die ich erfahren habe. Wenn mir Vertrauen geschenkt wird. Das ist in so vielen Situationen entstanden, von denen ich das nie gedacht hätte.
2015 haben Sie die Aufgabe des evangelischen Polizeipfarrers übernommen. Dabei bieten doch gerade Polizei und evangelische Kirche viel Reibungsfläche. Was hat Sie trotzdem an dieser Aufgabe gereizt?
Die Brückenfunktion zwischen Polizei und Kirche, zwischen Polizei und Gesellschaft. Die ist immer sehr schwer einzunehmen. Ich habe daran auch wirklich schwer zu tragen gehabt. Von meiner Kirche gab es dazu nicht sehr viele Nachfragen. Ich hätte mir gewünscht, dass die Kirche mein Amt und die Brücke, die es bietet, stärker nutzt.
Was meinen Sie damit?
Gern hätte ich meine Erfahrungen mit Polizistinnen und Polizisten mehr in die Kirche und in die Gemeinden getragen. Ich hätte mich über Einladungen zu Gesprächskreisen und Gemeindeabenden beispielsweise gefreut. Auch bei Kolleginnen und Kollegen hätte ich mir vorstellen können, Fronten aufzubrechen und Vorurteile abzubauen.
Trotzdem haben Sie weiter versucht, Brücken zu bauen.
Ja, die Brücken sind auch viel genutzt worden – von der Polizei. Um zu wissen, was ist eigentlich Kirche. Um zu wissen, was ist Glaube und was hat Religion zu mir persönlich und zu gesellschaftlichen Fragestellungen zu sagen. In diese Richtung wurden die Brücken sehr oft betreten.
Was passierte in der Gegenrichtung?
Ein großer Traum war gewesen,
einen Verein zu gründen, der Gesellschaft und Polizei zusammenbringt. Gegenseitiges Verständnis ist so wichtig. Denn Polizisten sind Menschen. Zweitens sind sie Menschen, die einen politischen Auftrag erfüllen. Und drittens haben sie alle ihre Meinung. Aber wenn man sich nicht gegenseitig kennenlernt, dann kann man auch nichts voneinander wissen, und dann verbleibt man in Vorurteilen, man verbleibt in Schubladen. Das ist das Kreuz und das Elend dieser heutigen Zeit, dass Menschen in Schubladen gesteckt werden. Aber meine Kraft reichte nicht für alles, sodass der Verein ein Traum geblieben ist.
Ich muss noch einmal nachhaken: Warum ist Ihr Amt auf so wenig Interesse bei der Kirche getroffen?
Ich weiß es nicht. Ich habe oft die Erfahrung machen müssen, dass die Polizei als Gegner oder Machtinstrument gesehen wird. Es ist schwer, Vorurteile zu überwinden. Das zeigt meine Person. Ich wurde in der DDR sozialisiert. Ich lebte im Grenzgebiet. Ich habe eine bestimmte Vorstellung von Polizei jahrelang mit mir herumgetragen. Aber man muss sich damit auch auseinandersetzen, und so habe ich die Aufgabe als Polizeiseelsorger angenommen. Nicht weil ich Polizisten
geliebt habe und weil ich gerne bei der Polizei sein wollte. Es hat mich interessiert, zu den Menschen zu gehen, von denen ich vorher nichts wusste und deren Lebensumstände ich kaum kannte.
Hat der Kontakt mit den Beamten Ihr Bild von Polizei verändert?
Ja, mein Bild von Polizei hat sich sehr geändert. Ich habe früher immer gedacht, na ja, das ist die Gewalt des Staates, die sich durch die Polizei Bahn bricht. Aber es sind einzelne Menschen und ich habe großen Respekt vor den einzelnen Menschen in allen Ebenen der Polizei. Sie bemühen sich, ihr Verhalten, ihr Handeln zu reflektieren. Sie vertreten ethische Werte. Das hatte ich vorher nie so gesehen. Ich habe Polizei immer als Organisation wahrgenommen, aber eine Organisation besteht aus einzelnen Menschen. Das habe ich schnell gelernt.
Zu ihren Aufgaben gehörte auch Notfallseelsorge, für Betroffene von Schicksalsschlägen da zu sein, aber auch für die Beamten ...
... ja. Was in Notfällen nie geht, ist, diese allein oder als Einzelner bewältigen zu wollen. Das Überbringen einer Todesnachricht, der Beistand für die Betroffenen von Unglücksfällen geschieht nur im Team.
Man hat immer Polizisten oder Feuerwehrleute oder die Rettungsdienste, mit denen man über eine solche Situation reden kann. Außerdem habe ich viele Sachen zu Hause reflektiert. Mein sicheres soziales Umfeld hat mir Halt gegeben. Aber auch meine Frömmigkeit und ein Gebet haben mir geholfen. Eine Frömmigkeit, in der die Not der Welt aufgehoben ist. Trotzdem bleibt man bei dieser Arbeit auch als Polizist, als Feuerwehrmann, als Notfallsanitäter nicht unversehrt. Man bekommt Narben, man bekommt Verletzungen und man kann nur froh sein, wenn man mit diesen Verletzungen lernt, weiter normal zu leben.
Sie haben die Polizei bei Einsätzen begleitet, haben erlebt, was mit Beamten passiert. Hat man als Polizeipfarrer Einfluss auf das Geschehen?
Bedingt. Während einer Einsatzbegleitung bin ich erstens im sicheren Bereich. Da passen die Beamtinnen und Beamten auf mich auf, damit ich nicht irgendwo hingehe, wo mir etwas passieren könnte. Dafür bin ich immer dankbar gewesen. Zweitens: Es gibt in diesen Situationen immer viele Gespräche. Es herrscht ja nicht immer Action. Die Einsatzzüge warten auf Anweisungen und dann spricht man über Recht und
Gerechtigkeit, über Rechtsextremismus, Linksextremismus, über staatliche Gewalt, über Mittel, wie man Gewalt anwenden muss oder darf. Ich versuche durch Anwesenheit und Gespräche auch deeskalierend zu wirken.
Ich rede mit den Menschen, den Polizisten. Ich gebe aber keine Empfehlungen zu den Einsätzen. Die Polizei versucht selbst, so wenig Gewalt wie möglich einzusetzen. Das ist meine Erfahrung. Die Beamtinnen und Beamten wollen das nicht, es gibt schlechte Bilder, Verletzungen sind möglich und auch disziplinarische Konsequenzen.
Lässt sich bei solchen Gesprächen wirklich etwas erreichen?
Ja, aber das ist nicht einfach. Denn die Menschen brauchen einen Horizont, eine Perspektive. Die Beamtinnen und Beamten benötigen auch Werte und eine Führung. Dafür sind Vorbilder wichtig.
Am heutigen 31. Januar werden Sie in Jena mit einem festlichen Gottesdienst verabschiedet.
Ich freue mich bereits darauf.
Am 1. Februar folgt der Ruhestand. Was werden sie dann machen?
Ich weiß es noch nicht. Ich freue mich aber auf meine Werkstatt.