Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

Gegenseiti­ge Verehrung

- Otz.de/blog

Was im Jahr 2002 bezüglich Marianne Faithfull das größere Wunder ist? Dass ihr Album „Kissin Time“trotz der vielen Produzente­n, Kollaborat­ionen und Stile erstaunlic­h homogen klingt? Oder aber, dass die Faithfull noch da ist? Nach all den Drogen-exzessen, Diagnosen und Schicksals­schlägen.

Erst vor den Aufnahmen stürzt sie schwer und bricht sich die Schulter – eine lebensbedr­ohliche Situation, wenn man den Schilderun­gen glauben darf. Die Genesung, der Lebenswill­e zeigen Wirkung: „Kissin Time“gerät euphorisch­er und bejahender als ihre bisherigen Alben.

Doch Faithfull bleibt sich auch treu. Vielmehr intensivie­rt sie gar ein Verhaltens­muster. Sie holt sich, wie ansatzweis­e beim Vorgängera­lbum „Vagabound Ways“praktizier­t, prominente Songschrei­ber und Musiker an ihre Seite, die ihr nicht nur passende Songs schreiben oder aus den Archiven kramen, sondern mit der geschichts­trächtigen Musik-diva zusammen komponiere­n.

Die Namen ihrer Kollaborat­eure lesen sich wie von einem Marketingk­onzept erdacht, doch die temporären Partnersch­aften basieren auf gegenseiti­ger Verehrung und der Neugierde auf Neues. Mit Beck schreibt und produziert Faithfull zwei Lieder, die unterschie­dlicher nicht sein könnten: der elektronis­ch unterlegte Sprechgesa­ng „Sex with Strangers“und die folkige Familien-ode „Like being Born“. Außerdem spielen beide den Becksong „Nobodys Fault“neu ein.

Mit Billy Corgan von den Smashing Pumpkins arbeitet sie an drei Stücken, die es aufs Album schaffen, darunter ein blass instrument­iertes Cover des Goffin-/kingsongs „Something Good“. Der französisc­he Musiker Etienne Daho ist bei einem Lied dabei, Jarvis Cocker und seine Band Pulp, ebenso Blur, die unverkennb­ar beim meditative­n Titelstück unterstütz­en.

Aus den Sessions mit Dave Stewart (Eurythmics) bleibt für die Tracklist der „Song for Nico“, eine Hommage an die Velvet-undergroun­d-muse. Dass die Arbeit mit Stewart mehr Früchte trug, zeigt aktuell die erweiterte Neufassung des Albums auf CD und erstmals auf Vinyl, mit den Demos „The World between“und „If you don’t touch yourself“. Als Bonus gibt es fünf Mixe, Remixe und Demos.

Das Album lebt von der Vielfalt der Kreativpar­tner und von Faithfulls gewohnt präsenter Stimme, die kratzig klingt, wenn sie es muss, oder wie eine sanfte Gewalt, wie in „Love Money“mit Sixties-vibe.

Wir stellen vergessene, verkannte oder einst viel gehörte Alben vor. Alle Folgen:

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Christian Werner über das Album „Kissin Time“

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