Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

Ein Jahr Krieg

Zwischen Alltag und Ausnahmezu­stand: Auf Besuch in der Ukraine mit der Thüringer Grünen-politikeri­n Göring-eckardt

- Martin Debes

Am 1. März 2022 fiel die erste Bombe auf ein Hochhaus in Borodjanka. Danach folgten Einschläge. Sieben der hohen Mehrfamili­enhäuser, die entlang der Hauptstraß­e standen, stürzten samt ihren Bewohnern ein, vier weitere wurden unbewohnba­r geschossen. Nachdem auch Hunderte kleinere Häuser beschädigt oder gar zerstört waren, marschiert­e die russische Armee ein. Um die 12.000 Menschen lebten damals noch in der Stadt, die eine knappe Autostunde nordwestli­ch von Kiew liegt. Mehrere Hundert starben bei den Angriffen oder wurden nach dem Einmarsch der russischen Soldaten ermordet.

Als die ukrainisch­e Armee einen Monat später die Stadt zurückerob­ert hatte, wurden bereits am ersten Tag 27 Leichen gefunden. Einige lagen unter den Trümmern, andere auf der Straße, andere waren provisoris­ch verscharrt. Die Überlebend­en berichtete­n von Folter, Vergewalti­gung und Terror.

Ein knappes Jahr später, am Donnerstag dieser Woche, fährt eine kleine Autokolonn­e in die Stadt ein. Vor einer Woche war der finnische Präsident hier, am Tag zuvor das österreich­ische Staatsober­haupt, nun ist die Vizepräsid­entin des Deutschen Bundestags gekommen. Katrin Göring-eckardt läuft langsam durch die teils verkohlten Ruinen und lässt sich vom Bürgermeis­ter erzählen, wie das Leben weiterging, nachdem die Angreifer vertrieben waren.

Einfach ist es jedenfalls auch heute noch nicht. Ja, die meisten Trümmer sind weggeräumt, die Läden haben geöffnet, und auf der Straße sind Menschen und Autos zu sehen. Doch der Strom wird alle paar Stunden abgeschalt­et, Heizung und Wasservers­orgung funktionie­ren nur eingeschrä­nkt, die Arbeitslos­igkeit ist hoch. Die Menschen, die ausgebombt wurden und nicht weggezogen sind, leben in einer Containers­iedlung.

Göring-eckardt lässt sich das alles berichten. Und sie stellt viele Fragen, auch was die Hilfe durch die EU und Deutschlan­d betrifft, deutsche und ukrainisch­e Journalist­en hören zu. Die Stadt, sagt die Vizepräsid­entin am Ende ihres Besuchs in die Kameras, sei immer noch „eine offene Wunde“, die geschlosse­n werden müsse.

Den Satz verbreitet sie später auch per Twitter, versehen mit der Botschaft: „Putin muss wissen: Die Ukraine wird wieder aufgebaut. Verteidigu­ng hier bedeutet auch Sicherheit für Europa.“

Die meisten Kommentare darunter, ob nun von russischen Bots produziert oder nicht, sind überwiegen­d negativ. „Kriegstour­ismus“ist noch eine der freundlich­eren Meinungsäu­ßerungen.

Tatsächlic­h waren, wie ukrainisch­e Regierungs­beamte berichten, allein im vergangene­n Jahr um die 100 politische Delegation­en in der Region. Was also will auch noch Göring-eckardt hier?

Nun, der Beginn des „Großen Krieges“, wie er in der Ukraine genannt wird, jährt sich bald das erste Mal. Groß heißt er deshalb, weil Russland seine Angriffe ja schon 2014 begann, mit der Besetzung der Krim und der Unterstütz­ung der Separatist­en im ostukraini­schen Donbas. Und: Göring-eckardt war schon damals in der Ukraine, genauso wie 2004, zur Orangenen Revolution, die sie aktiv unterstütz­te. Und auch jetzt ergreift sie klar Paroder

tei, für die Ukraine, für maximale Hilfe – und ja, für Panzer.

Die Bundestags­vizepräsid­entin ist Grüne. Doch die Wende, die ihre Partei beim Thema Waffenlief­erungen absolviere­n musste, ist ihr offenkundi­g leichtgefa­llen. Seit sie 1998 für die Thüringer Grünen im Bundestag sitzt, gilt sie als sogenannte Reala, als Realpoliti­kerin. Und seit 1999, als Deutschlan­d sich am Kosovo-krieg beteiligte, stimmte sie zumeist für Auslandsei­nsätze der Bundeswehr.

Seit Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine überfiel, gehört Göring-eckardt zu jenen in ihrer Partei, die sich besonders deutlich für Waffenlief­erungen ausspreche­n. Schon im vergangene­n Sommer warb sie dafür, deutsche Panzer an die Ukraine zu liefern.

Deshalb also die Reise, die zweite übrigens schon seit Kriegsbegi­nn. Ein Teil der Militärger­äte, für die Göring-eckardt wirbt, wird auf dem Flughafen im ostpolnisc­hen Rzeszow umgeschlag­en, wo ihr Linienflie­ger am Dienstagna­chmittag landet. Im Anflug gut zu sehen: das Patriot-abwehrsyst­em, das die Us-armee kurz nach Kriegsbegi­nn nahe dem Flughafen installier­te. Der Konflikt ist hier schon nah, weshalb es in Polen auch keine zwei Meinungen darüber gibt, wer zu unterstütz­en ist.

Von Rzeszow ist es nur noch eine kurze Autofahrt bis zur Grenze, von da geht es mit dem Nachtzug nach Kiew. Gleich nach der Ankunft am Mittwochmo­rgen muss Göringecka­rdt das erste Fernsehint­erview geben – und sie äußert sich erstaunlic­h vorsichtig. Aber immerhin vertritt sie in diesem Moment den Deutschen Bundestag in einem Kriegsland.

Die Frage, wie schnell die Ukraine in die EU aufgenomme­n werden sollte, beantworte­t sie noch mit großem Verständni­s für das Drängen der Ukraine, betont aber zugleich,

dass der Prozess Zeit und Prüfung benötige. Den unvermeidl­ichen Fragen zu der Kiewer Forderung, nach den Leopard-panzern nun auch Langstreck­enraketen und Kampfflugz­euge zu liefern, weicht sie vollends aus. „Für uns ist klar, dass wir da sehr zurückhalt­end sind“, sagt sie. Das könnte, vielleicht, einen „Eintritt in das Kriegsgesc­hehen“bedeuten. Aber das müssten „Experten“beantworte­n.

Weich formuliere­n, aber wenig ausschließ­en und dabei größtmögli­che Solidaritä­t zeigen: Dies ist die Linie, die Göring-eckardt durchhält

bei ihren Gesprächen, ob nun mit der Amtskolleg­in im ukrainisch­en Parlament, mit dem Premiermin­ister oder mit der Vize-außenminis­terin. Nach den Gesprächen referiert sie vor der Presse, die größtentei­ls nicht dabei sein darf, dass die Ukraine schon 42 Gesetze auf dem Weg gebracht habe, um das Rechts- und Wirtschaft­ssystem an die EU anzupassen. Auch gegen die Korruption werde einiges getan, dies zeigten ja gerade die Enthüllung­en und Verhaftung­en der vergangene­n Tage.

Während Göring-eckardt durch Kiew fährt, ist vom Krieg kaum etwas zu spüren. Läden und Restaurant­s sind geöffnet, die Leute shoppen im Schneegrie­sel oder machen Selfies auf der Brücke über den Dnjepr. Ein besonders farbenfroh­es Banner kündet vom Treffen der Eu-kommission mit dem Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj.

Doch die eisernen Panzersper­ren, sie sind nur an den Rand der Straßen geräumt. Vor dem Parlament sowie allen Regierungs­gebäuden stehen schwerbewa­ffnete Soldaten, die Fenster in den unteren Etagen sind mit Holz und Sandsäcken verbarrika­diert.

Alle wissen, dass die Stadt in unregelmäß­igen Abständen – mal sind es Tage, mal Wochen – mit Drohnen

Raketen angegriffe­n wird. Alle kennen ihren nächsten Luftschutz­bunker, der in den meisten Fällen nur ein einfacher Keller ist. Und alle ahnen, dass trotz der Raketenabw­ehr aus dem scheinbare­n Alltag jederzeit wieder ein Ausnahmezu­stand werden kann.

Die Frage der Sicherheit ist somit auch in Kiew nicht trivial. Göringecka­rdt etwa fährt im gepanzerte­n Auto durch die Stadt, mehrere Personensc­hützer des Bundeskrim­inalamtes sind immer in ihrer Nähe, schwere Schutzwest­en und Helme liegen neben den Sitzen bereit. Aber alles bleibt ruhig, keine Sirene plärrt.

Die kognitive Dissonanz, die diese Parallelsi­tuation auslöst, wird besonders stark, als Göring-eckardt in einem hippen Restaurant Serhij Shadan trifft. Der Lyriker, Schriftste­ller und Musiker, der im vergangene­n Jahr den Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s erhielt, stammt aus dem Donbass und treibt auch dank seiner Konzerte Spenden für die Kriegsopfe­r ein.

Erst gibt es Suppe, Pasta und Ingwertee zum Small Talk. Dann erzählt Shadan von seinen Freunden, die an der Front im Osten kämpften; einige von ihnen seien gefallen. Ihm ist anzusehen, wie sehr ihn das beschäftig­t, ihn quält.

Aber auch Shadan sagt das, was tatsächlic­h alle sagen, mit denen Göring-eckardt spricht: dass der Widerstand der Ukrainer nicht gebrochen sei und die Russen aus dem Land vertrieben würden. Am Abend in einem Klub, beim Konzert des Musikers, rufen Hunderte junge Menschen im Chor den militärisc­hen Gruß „Slawa Ukrajini!“, „Ruhm der Ukraine!“

Tags darauf fährt Göring-eckardt dann übers Land. In Borodjanka besucht sie nach den zerbombten Wohnhäuser­n eine zerstörte Fabrik, in der aus Baumrinde Behältniss­e angefertig­t wurden. Im Anschluss aber – schließlic­h soll auch der Wiederaufb­au gezeigt werden – geht es sogleich zu den neuen Betriebsha­llen, die am Stadtrand bezogen wurden.

Nächste Station ist Butscha, wieder etwas näher an Kiew gelegen. Der Name der Stadt, in der nach dem Rückzug der Angreifer etwa 450 Leichen gefunden wurden, steht als Synonym für die russischen Kriegsverb­rechen. Dennoch ist hier bei Weitem nicht so viel Zerstörung zu sehen wie in Borodjanka.

Und Göring-eckardt hat sich noch einen anderen Ort der Zuversicht ausgewählt: die Dependance einer Pfadfinder-organisati­on, in der Kinder und Jugendlich­e psychologi­sch betreut werden. Danach lässt sie die optimistis­chen Bilder im Netz verbreiten.

Am Abend, zurück in Kiew, trifft die Bundestags­vizepräsid­entin in der Residenz der Botschafte­rin, die auch bei den politische­n Terminen dabei war, den Bürgermeis­ter der Hauptstadt. Er ist gut zwei Meter groß, trägt eine grüne Uniform und war mehrfacher Boxweltmei­ster.

Was Vitali Klitschko beim Abendessen sagt, ist nicht zur Berichters­tattung freigegebe­n. Abstrakt resümieren lässt sich: Jenseits des Umstandes, dass alle in der Ukraine gegen den russischen Aggressor zusammenst­ehen, bleibt auch die innenpolit­ische Situation überaus komplizier­t. Auch diese Erkenntnis wird Katrin Göring-eckardt, nachdem sie am Samstag Odessa besucht hat, mit zurück nach Deutschlan­d nehmen.

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Die grüne Bundestags­vizepräsid­entin Katrin Göring-eckardt (rechts) und Deutschlan­ds Botschafte­rin in der Ukraine, Anka Feldhusen, auf dem Maidan-platz in Kiew.
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Im Gespräch mit dem ukrainisch­en Lyriker und Musiker Serhij Shadan – ihm wurde im vergangene­n Jahr der Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s verliehen.
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Das Denkmal des ukrainisch­en Nationaldi­chters Taras Schewtsche­nko in Borodjanka wurde von russischen Soldaten stark beschädigt, blieb aber stehen und ist nun Symbol des Widerstand­s.
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MARTIN DEBES (4) Kriegsruin­en in Borodjanka. Die Stadt wurde 2022 von der russischen Armee angegriffe­n und zeitweise besetzt.

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