Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)
Im geschützten Raum
Zu wenige Menschen mit Behinderung wechseln aus Werkstätten in den ersten Arbeitsmarkt
Etwa 9600 Menschen mit Behinderung arbeiten in Thüringen in speziellen Werkstätten. Geschützte Räume, in denen andere Regeln als auf dem ersten Arbeitsmarkt gelten und auf den die Werkstätten vorbereiten sollen. Das gehört zu ihrem Auftrag.
Doch so ein Sprung gelingt zu selten. Genauer gesagt: Kaum. Nicht einmal ein Prozent der dort tätigen Menschen wechselten in den vergangenen Jahren. Als Lotsen in den ersten Arbeitsmarkt hätten die Werkstätten versagt, konstatierten im vergangenen November die Behindertenbeauftragten der Länder auf ihrem Treffen in Erfurt. Bis 2025 sollten Akteure Vorschläge für Veränderungen auf den Tisch legen. Denn so seien Werkstätten nicht zukunftsfähig, kritisierte der Landesbeauftragte Joachim Leibiger.
Ein Vorwurf, den Heike Buchhorn gut kennt. Sie ist Geschäftsbereichsleiterin Ausbildung und Arbeit beim Lebenshilfe-werk Weimar/apolda (LHW) und sagt, eine Debatte könne nur gut sein. Sie wehrt sich aber auch gegen pauschale Urteile. Gegen den Eindruck, Werkstätten würden zu wenig tun, um die Menschen fit für den erste Arbeitsmarkt zu machen, verweist auf die Kooperation mit etwa 50 Firmen, mit denen das Lebenshilfe-werk Weimar/apolda Außenarbeitsplätze vorhält. Für Reinigungsarbeiten bei den Verkehrsbetrieben zum Beispiel, als Küchenhilfen, bei der Montage von Bauteilen. Oder als Alltagsbegleiter in der Pflege, dafür bietet das Lebenshilfewerk sogar eine Ausbildung an. Das Prinzip: Die Menschen können sich ausprobieren, wie und ob sie dem ersten Arbeitsmarkt gewachsen sind, während sie weiter zum sicheren Netz der Werkstatt gehören.
Thomas Köhler arbeitet seit 2008 in einer Werkstatt, wo Bauteile für die Industrie montiert werden. Das tut er auch in der Außenstelle eines Haustechnik-herstellers, manchmal eine Woche oder mehr, je nach Bedarf. Ein Unterschied?
Die Angst, zu versagen
Ganz sicher. Die Arbeitsabläufe, erzählt er, sind getaktet, von den Kollegen neben ihm vorgegeben und wenn er zu langsam ist, gerät alles ins Stocken. Und das einen vollen Arbeitstag lang, vor allem am Anfang hatte er Sorge, diese Konzentration nicht aufbringen zu können, inzwischen ist er sicherer geworden.
Doch es ist bis heute immer eine Behauptung auf Zeit, und es gibt Arbeitstage, die schwerfallen. Dann überspielt er die Anspannung, funktioniert, aber fühlt sich nicht gut dabei.
Für seine Arbeit in der Werkstatt erhält er etwa 260 Euro im Monat, etwas mehr, wenn er auf dem Außenarbeitsplatz eingesetzt ist. Für sein Auskommen bekommt er Grundsicherung. Sicher, selbst bei Mindestlohn wäre sein Gehalt viel höher, würde er die Werkstatt verlassen und einen Arbeitsvertrag mit der Haustechnik-firma unterschreiben. Vor allem, ist er sich sicher, wäre es ein Gewinn an Selbstvertrauen und Selbstbestimmung.
Wenn er das schaffen würde. Doch genau das macht ihn unsicher. Die Angst, zu versagen. Er weiß nicht, ob er die Anspannung auf Dauer aushalten kann. Er lebt allein in einer Wohnung, die Werkstatt sei ihm auch wegen der sozialen Kontakte wichtig, der angebotene Malkurs zum Beispiel, der Fußball, die Ausflüge mit den Reisefreunden, zu denen er seit Jahren gehört. Und ja, auch als geschützter Raum, wo er sich an schlechten Tagen nicht verstellen muss.
Fragt man Thomas Köhler, was ihm bei einem Wechsel am wichtigsten
wäre, spricht er von einer verlässlichen Ansprechperson. „Eine, die meine Situation kennt, die ehrlich ist und der ich vertrauen kann.“
Dahinter steckt auch eine Befürchtung, die auf schlechten Erfahrungen beruht, weiß Sabrina Weihrauch. Sie ist Vertrauensperson der Werkstatträte und kennt Menschen, die in die Werkstatt vom ersten Arbeitsmarkt zurückkehren und von Ausgrenzung berichten. Bis hin zum Mobbing.
Warten auf Anerkennung von Werkstatt-ausbildung
Ein Arbeitsplatz, der den äußerlichen Kriterien von Behindertengerechtigkeit entspricht, bemerkt Heike Buchhorn, sei eben nicht alles. Zu einem inklusiven Arbeitsraum gehörten auch längere Pausen, Entspannungsmöglichkeiten und natürlich eine Atmosphäre, die Vertrauen schafft. Man dürfe, sagt sie auch, bei dieser Diskussion nicht die Menschen mit mehrfachen Behinderungen vergessen, wenn auch sie eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt haben sollen.
Und Werkstatt-mitarbeiter Robert Boxberg erinnert an ein sehr praktisches Problem: Der Arbeitsweg. Gerade im ländlichen Gebiet sei man als Arbeitnehmer oft auf ein
Auto angewiesen. Das haben aber die meisten Werkstatt-beschäftigten nicht. Ohne den Fahrdienst des LHW könnten viele gar nicht zur Arbeit kommen.
Kai Brecht, der wie Thomas Köhler und Robert Boxberg zu den Werkstatträten des LHW gehört, will den Sprung wagen. Er hat einmal den Gärtner-beruf gelernt und will nächstens aus der von der Werkstatt betriebenen Wäscherei in die Gärtnerei seines Onkels wechseln. Ein langer Traum und ein großer Schritt, wir ermutigen ihn dazu, sagt Heike Buchhorn. Doch sie versteht auch seine Befürchtungen, zumal der Betrieb weit weg, auf Rügen liegt. Wir sind, sagt sie, per Videochat ja immer erreichbar.
Auch diese Bemerkung berührt ein Problem, das für sie in die Debatte nach der Zukunft der Werkstätten gehört: Wer berät die Menschen, wenn sie nach einem Wechsel Unterstützung brauchen?
Sie besteht darauf, dass auch die Firmen mit an den Tisch gehören. Unter den vielen offenen Fragen sei auch die nach der Anerkennung von Ausbildungsbausteinen, die Werkstätten anbieten. Es gebe Bundesländer, in denen sich die Kammern darauf geeinigt haben. In Thüringen ist man noch auf dem Weg.