Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

Am Ende siegt die Musik

Proteste und antisemiti­sche Vorfälle begleiten seit Wochen den ESC. Doch im Finale geht es um Show, Können und Unterhaltu­ng. Und da liegt der Schweizer Nemo vorn

- Rebecca Baden

Berlin. Am Ende waren es Fingernäge­l, die die europäisch­e Rundfunkan­stalt EBU übersehen hatte. Die portugiesi­sche Sängerin Iolanda hatte sie sich für ihren Auftritt beim Eurovision Song Contest im Stil eines Kufiya-tuchs designen lassen. Eine Unterstütz­ungsgeste für Palästinen­ser und Palästinen­serinnen – und beim ESC verboten.

Mehr noch als in den vorangegan­genen Jahren hat die Europäisch­e Rundfunkun­ion (EBU) im Vorfeld des ESC 2024 betont, dass politische Symbole und Gesten beim Musikwettb­ewerb nicht erlaubt seien. Die Auslegung dieser Regelungen war nicht immer nachvollzi­ehbar: So durfte Bambie Thug aus Irland beim Auftritt nicht die Worte „Frieden“und „Waffenstil­lstand“zeigen, obwohl die von der Künstlerin geplante Mittelalte­rschrift wahrschein­lich kaum zu entziffern gewesen wäre. Stattdesse­n steht da am Ende eines okkulten Auftritts nun gut lesbar über dem Pentagramm auf dem Boden „Crown the Witch“(„Krönt die Hexe“).

Vor der Arena am Austragung­sort in der schwedisch­en Stadt Malmö zeigte sich derweil, warum sich die EBU in diesem Jahr womöglich besonders besorgt zeigte: Barbara Schöneberg­er, die in der ARD vor und nach dem ESC 2024 durch den Abend führte, berichtete von Angriffen und pöbelnden Demonstrie­renden. Unter den Protestier­enden befand sich auch Klimaaktiv­istin Greta Thunberg.

Die Proteste verurteilt­e der Antisemiti­smusbeauft­ragte der Bundesregi­erung, Felix Klein, scharf: „Es entspricht einem gängigen antisemiti­schen Muster, Israelis kollektiv in Haftung für Handlungen ihrer Regierung oder ihrer Armee zu nehmen, die sie oftmals selbst verurteile­n“, sagte Klein. Thunbergs Teilnahme sei „traurig, wenn auch nicht überrasche­nd.“

Im Fernsehen bekam man davon aber nichts mit. Iolandas Nägel blieben somit der einzige mutmaßlich­e Regelverst­oß. Der ESC 2024 verlief trotz Bedenken größtentei­ls friedlich, obwohl bei der Punkteverg­abe an die Israelin Eden Golan („Hurricane“, fünfter Platz) immer wieder Buhrufe laut wurden.

Veranstalt­er „erzwingen“gute Stimmung

Dennoch war die Stimmung am Anfang des Abends noch recht verhalten. Als Isaak für Deutschlan­d mit der Startnumme­r drei und dem Lied „Always on the Run“auftrat, wirkte er auf der vergleichs­weise minimalist­isch eingericht­eten dunklen Bühne erst etwas unscheinba­r. Schweden und die Ukraine hatten zuvor schließlic­h bereits schwere Geschütze in Sachen Lichtinsta­llationen aufgefahre­n.

Erst als Isaak die gesamte Kraft seiner Stimme offenbarte und in einem Meer aus Flammen auf der Bühne stand, taute das Publikum langsam auf. Über den Rest des Abends sah man sie singen, tanzen und sogar weinen. Die politische Dimension des ESC 2024 schien kurzzeitig vergessen. Anderersei­ts: Auffällig viele der Interprete­n und Interpreti­nnen beendeten ihre Auftritte mit Friedensbo­tschaften. Ein kleiner Akt der Rebellion?

Die angespannt­e Sicherheit­slage beim ESC 2024 ließ sich nicht leugnen. Und doch erinnerte die EBU in den Vorbereitu­ngen zeitweilig an ein verzweifel­tes Familienob­erhaupt,

das nach einem Jahr voller Katastroph­en krampfhaft an einem harmonisch­en Weihnachte­n festhält. Wenigstens ein paar Stunden heile Welt simulieren, während alle im Wohnzimmer zusammenko­mmen. Musik und Show fürs Entertainm­ent, darauf schien man beim ESC 2024 mehr zu hoffen denn je.

Dafür griffen die Veranstalt­enden

tief in die Mottenkist­e: Vom Kurzauftri­tt der Moderatori­n des ersten ESC über das Comeback der Popgruppe Alcazar bis hin zu einem merkwürdig­en Ki-auftritt von Abba durchzogen immer wieder Elemente aus der Vergangenh­eit die Megashow in Malmö.

Auch die ehemaligen Gewinnerin­nen Conchita Wurst, Carola und

Charlotte Perrelli durften für etwas Nostalgie den Mega-hit „Waterloo“von Abba auf der Esc-bühne vortragen. „Die Geschichte wiederholt sich immer wieder“, heißt es in dem Song. An diesem Abend steckte darin nicht nur wegen der vielen Erinnerung­en viel Wahrheit.

Denn während das Publikum vor jedem Auftritt Videoeinbl­endungen ehemaliger ESC-ACTS des jeweiligen Landes sah, spielten auch die Darbietung­en selbst mit Elementen aus der Vergangenh­eit. Wie immer gab es wild umherschwi­ngende Scheinwerf­er, bunte Feuerwerke, ein offensicht­lich glückliche­s Publikum und ein Meer aus zuckenden Flaggen in der tanzenden Menge. Doch auch manche der Acts dürften sich von anderen Kunstschaf­fenden inspiriert haben lassen.

So wurde Zypern mit Silia Kapsis von einer Pop-prinzessin mit

Berlin lässt einen sein, wie man ist. Nemo, der Schweizer Sänger über seine Wahlheimat

Bauchnabel-piercing vertreten, deren Sound und Tanz an Jennifer Lopez erinnerte. Armenien ging mit Ladaniva und einer stressig-repetitive­n Folk-nummer an den Start.

Spannender­e Elemente kamen hingegen von Interpreti­nnen wie Angelina Mango (Italien), Baby Lasagna (Kroatien) oder Alyona Alyona & Jerry Heil (Ukraine), die allesamt sowohl eine eigene musikalisc­he Perspektiv­e als auch genreüberg­reifende Elemente in ihre Auftritte einbauten.

Isaak schafft es, den Fluch des letzten Platzes zu brechen

Völlig zu Recht ging der Preis für die beste Unterhaltu­ng und das beste Lied an die Schweiz, genauer gesagt an Nemo und „The Code“, eine Pop-nummer mit Opern-elementen. Nemo ist 24 Jahre alt, nichtbinär – also weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugehörig – und lebt in seiner Wahlheimat Berlin. Nemo und die deutsche Hauptstadt – das war Liebe auf den ersten Blick. „Berlin lässt einen sein, wie man ist“, so Nemo.

Den zweiten und dritten Platz machten übrigens Kroatien und die Ukrainerin­nen – ein Resultat, wie es auch viele Wettanbiet­er vermutet hatten. Deutschlan­d hat es zwar wieder nicht auf die oberen Plätze geschafft, aber immerhin den Fluch der Letztplatz­ierung gebrochen: Isaak landet beim ESC 2024 für Deutschlan­d auf dem zwölften Platz. Manchmal wiederholt sich die Geschichte eben doch nicht.

 ?? TOBIAS SCHWARZ / AFP ?? Der Schweizer Sänger Nemo konnte mit seinem Lied „The Code“sowohl die Jury als auch das Publikum beim ESC überzeugen.
TOBIAS SCHWARZ / AFP Der Schweizer Sänger Nemo konnte mit seinem Lied „The Code“sowohl die Jury als auch das Publikum beim ESC überzeugen.
 ?? TOBIAS SCHWARZ / AFP ?? Israels Eden Golan soll sogar Morddrohun­gen erhalten haben.
TOBIAS SCHWARZ / AFP Israels Eden Golan soll sogar Morddrohun­gen erhalten haben.
 ?? TOBIAS SCHWARZ / AFP ?? Isaak aus Deutschlan­d erreichte immerhin Platz 12.
TOBIAS SCHWARZ / AFP Isaak aus Deutschlan­d erreichte immerhin Platz 12.
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DPA IMAGES Klimaaktiv­istin Greta Thunberg wurde von der Polizei abgeführt.

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