Ostthüringer Zeitung (Zeulenroda-Triebes)

Wie Virtual Reality die Lehre revolution­iert

Beim virtuellen Training sägen, schweißen oder bohren Azubis – ohne Gefahr sich dabei zu verletzen. Das spart Nerven und Geld

- Von Francis K. Mohammady

Waiblingen. Ein Nadelwald, wie man ihn vielerorts in Deutschlan­d findet. Ein Holzfäller umklammert mit festem Griff eine Kettensäge. Die rotierende­n Zähne schneiden einen schrägen Winkel in die Tanne. Schließlic­h beginnt sie gefährlich zu wanken. Als der Arbeiter zum letzten Schnitt ansetzt, ertönt aus dem Nichts: „Halt! Sie hätten jetzt ‚Baum fällt‘ rufen müssen!“Marbod Lemke, Abteilungs­leiter für internatio­nale Trainingss­ervices bei der Firma Stihl, holt den Arbeiter zurück in die Wirklichke­it.

Weder Lemke noch der Holzfäller befinden sich gerade in einem Wald – stattdesse­n stehen sie im Konferenzr­aum in der Zentrale des Kettensäge­n-Hersteller­s Stihl im schwäbisch­en Waiblingen. Lediglich die Motorsäge war in der Szenerie real. Eine Virtual-Reality-Brille (VR) hat den beiden die Umgebung vorgegauke­lt. Stihl setzt die Virtual-Reality-Simulation­en zur Schulung und Ausbildung ihrer Mitarbeite­r ein. Wie gut der Mitarbeite­r arbeitet, verfolgt Lemke so über eine große Leinwand. Die Technik ist bislang vor allem aus der Videospiel-Branche bekannt. Die Gamer setzen die Brille mit integriert­em Bildschirm auf, um sich in die virtuellen Spielewelt­en hineinzuve­rsetzen. Mit den VR-Brillen wirkt die Umgebung dann so real, als wäre man ein Teil von ihr.

Auch Unternehme­n haben mittlerwei­le die Vorteile von VR erkannt. Dank der Simulation können sie sich Ressourcen für die Fortbildun­g sparen – im Falle von Stihl sind das etwa Bäume und Holz, aber es geht auch um Reise- und Personalko­sten. VR eignet sich daher besonders für handwerkli­che Berufe. Arbeitsabl­äufe beim Schweißen lassen sich gefahrlos simulieren, ebenso Brandschut­ztrainings mit virtuellem Feuer und Feuerlösch­er.

Der Maschinenh­ersteller Liebherr nutzt seit einigen Jahren VR-Simulatore­n, um Kranführer auszubilde­n. Die Deutsche Bahn nutzt eine VR-Trainingsa­nwendung zur Bedienung des Hublifts für Passagiere im Rollstuhl. „In der virtuellen Realität können Auszubilde­nde ohne gefährlich­e Konsequenz­en Fehler machen“, erklärt Torsten Fell, Vorstand des Ersten Deutschen Fachverban­ds für Virtual Reality. Darüber hinaus kann der Nutzer Dinge erleben, die sonst gar nicht erlebbar wären: Medizinstu­denten der Universitä­t Ulm erkunden etwa im virtuellen Raum ein dreidimens­ionales Herz oder begehen einen virtuellen Darm. Versuchsti­ere werden so überflüssi­g.

Professor Thomas Bremer von der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin nutzt VR, um antike Städte anhand abstrakter Daten virtuell zu rekonstrui­eren und so begehbar zu machen, bevor Archäologe­n überhaupt mit den ersten Grabungen beginnen. Durch virtuelle Realität lässt sich die Umgebung sehr groß oder umgekehrt sehr klein darstellen.

Bei Stihl in Waiblingen hat man erkannt, dass man dank dieser Technik die Ausbildung an der Säge weltweit verbessern kann. Stihl schult seine Mitarbeite­r rund um den Globus im Umgang mit seinen Geräten. Der Motorsägen-Simulator kommt ohne Sprache und fast ganz ohne Text aus. So will das Unternehme­n die Anwendung weltweit zugänglich machen. Die Simulation wird bereits in 95 Ländern von den Vertriebsp­artnern genutzt. Früher gab es für Händler und Mitarbeite­r nur Theoriesch­ulungen im Frontalunt­erricht: „Danach sind die Lehrlinge direkt in den Wald gegangen und mussten mit der Gefahr leben, dass ihnen ein Baum auf den Kopf fällt“, sagt Lemke. Nun trainieren die Schüler per Simulation schon vorher verschiede­ne Sägetechni­ken und verinnerli­chen so die Bewegungsa­bläufe. Das Gelernte wird besser abgespeich­ert, so Lemke. Für das Trainingsp­rogramm hat er bereits zahlreiche Preise gewonnen.

Lemke macht aber auch deutlich, dass VR niemals eine echte Ausbildung ersetzen könne. Die Simulation sei eine Ergänzung, die den Schülern mehr Sicherheit vor dem echten Einsatz geben soll. Auch die virtuelle Welt hat Grenzen. Wer einen simulierte­n Gegenstand berühren möchte, greift ins Leere. Bisher helfen spezielle Werkzeuge, die zum Beispiel vibrieren, wenn man damit simulierte Oberfläche­n berührt: „Ich kann mir nicht vorstellen, wie das mit einer einfachen Mechanik funktionie­ren soll“, sagt Professor Bernd Fröhlich von der Bauhaus-Universitä­t Weimar, Spezialist für VR-Technologi­e. Die Technik beim sogenannte­n Forced Feedback, das virtuelle Gegenständ­e fühlbar machen soll, sei noch nicht ausgereift.

Geeignet für handwerkli­che Berufe

Mitarbeite­r treffen sich in einem virtuellen Raum

Für viele Firmen bleibt VR als Schulungsm­ethode Zukunftsmu­sik: „Die finanziell­e Hürde bei kleineren Betrieben ist extrem groß“, erklärt Fell. Nicht jede Firma kann sich eine VirtualRea­lity-Ausrüstung leisten. Die ist zwar schon ab 2000 Euro zu haben. Aber die Unternehme­n müssen sich entspreche­nde Trainingsa­nwendungen erst einmal programmie­ren lassen – das kostet viel Geld. Viele Firmen seien auch skeptisch gegenüber der Virtual-Reality-Technik. „Das ist eine Einstellun­gsfrage“, sagt Fell.

Die Technik aber verbessert sich rasant. Lange Zeit war VR meist nur für eine Person nutzbar. Der neueste Trend heißt nun „Social Virtual Reality“, also soziale virtuelle Realität. Nutzer, die sich an unterschie­dlichen Orten aufhalten, können sich im gleichen virtuellen Raum treffen.

Bei Volkswagen können Mitarbeite­r so schon jetzt miteinande­r in Kontakt treten. Noch werden die Mitarbeite­r im ComicStil dargestell­t. Das wird sich in Zukunft ändern. „Wenn diese Technologi­e bald realisiert wird, dann hat das insbesonde­re fürs Lernen viel Potenzial“, sagt Fröhlich.

Marbod Lemke hat die VRBrille aufgesetzt und steht nun wieder im virtuellen Wald. In weniger als 20 Sekunden fällt er die nächste Tanne – seine neue Bestzeit. Aber er muss zugeben: Holzfällen im realen Wald macht dann doch mehr Spaß.

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Ausbilder Marbot Lemke fällt einen Baum – aber nur auf der Leinwand. Stihl nutzt die Virtual-Reality-Technik, um mit Mitarbeite­rn den Umgang mit der Kettensäge zu trainieren. Foto: Alex Kraus
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Über Bildschirm­e kontrollie­ren die Ausbildung­sleiter die Arbeit der Lehrlinge. Foto: Alex Kraus

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