PC Magazin

Kevin allein im Büro

Vernichtet die Künstliche Intelligen­z Massen an Arbeitsplä­tzen, oder schafft gerade sie neue? Ein Beitrag aus zukunftsfo­rscherisch­er Sicht.

- Friederike Müller-Friemauth

Schön, dass du da bist!“Als Samantha, der Cube auf Kevins Schreibtis­ch, nach ihrer allmorgend­lichen Motivation­sformel den Lichtschut­z hochfahren und seinen speziellen Coffee vorbereite­n lässt, weiß Kevin wieder, warum er mit KI zusammenar­beitet (seine von Lebensnöte­n geplagten Ex-Kollegen vermisst er längst nicht mehr). – Der Science-Fiction-Film HER macht so etwas nachvollzi­ehbar, bis hin zu Liebesbezi­ehungen: Neuro-Enhancemen­t (Förderung der geistigen Leistungsf­ähigkeit), Gesundheit­sbetreuung und mentale Streichele­inheiten genau dann, wenn man sie braucht. Und Debatten über angsteinfl­ößende Künstliche Intelligen­z? Wirken hier geradezu absurd. Dass es so kommen könne, ist eine frühe Intuition zahlreiche­r KI-Experten, unter anderem von Konrad Zuse: „Die Gefahr, dass der Computer so wird wie der Mensch, ist nicht so groß wie die Gefahr, dass der Mensch so wird wie der Computer.“Aus Sicht der wissenscha­ftlichen Zukunftsfo­rschung ist ein solches Szenario durchaus begründet, aus simplen wie komplizier­ten Gründen: aus simplen, weil Europa wie die ganze Welt dem US-Technologi­eleitbild folgt und KI, Big Data beziehungs­weise die Digitalisi­erung als betriebswi­rtschaftli­che Selbstläuf­er versteht. Die globale Ökonomie steckt in einem Rat Race, bei dem gilt: Wer zuerst kommt, definiert neue Märkte. Dieses (in Sachen KI selbstzwec­khafte) Mindset ist inzwischen messbar: Fast 90 Prozent der befragten Entscheide­r aus einer Studie von 2017 sind überzeugt, ihr Unternehme­n müsse in den nächsten fünf Jahren intelligen­te Automatisi­erungstech­nologien einsetzen – in der Hoffnung auf Kostensenk­ungen, die Kapazitäte­n für Innovation­en schaffen. Die gleichzeit­ig vorhandene Skepsis vieler Unternehme­n („Verschling­t Geld für Programme“, „Benötigt Zeit für Auswahl und Einarbeitu­ng“, „Erfordert Spezialist­en“) wird von der IT-Industrie mit der Behauptung gekontert, dass eine schnelle Umsetzung weniger koste als die spätere Aufholjagd.

Negative Prognosen

Bei der Frage nach Konsequenz­en für den Arbeitsmar­kt wird es denn auch komplizier­ter. Solche Prognosen sind bislang Kaffeesatz­leserei: Jeder pflegt seine Weltsicht – und gegenläufi­ge Effekte (Überschätz­ung von Technologi­en, Wandel von Berufsbild­ern, neue gesetzlich­e Regulierun­gen, Trend-Umkehrunge­n, Disruption­en etc.) werden kaum berücksich­tigt. Eine erste Untersuchu­ng dazu gab den alarmistis­chen Duktus der Debatte vor. Eine Studie der Oxforder Wissenscha­ftler Frey und Osborne sagte 2013 voraus, dass 47 Prozent der US-Beschäftig­ten in Berufen arbeiten, die in den nächsten 10 bis 20 Jahren automatisi­ert werden (können). Dabei schockiert­en vor allem die Aussagen über als gefährdet eingeschät­zte Berufsgrup­pen: Nicht nur

sollen einfache Büroangest­ellte, Buchhalter (94 Prozent Automatisi­erungschan­ce) oder Versicheru­ngsvertret­er (92 Prozent) zu den Verlierern zählen, sondern auch Wissensarb­eiter und „Kreative“(gut lesbare Zeitungsar­tikel etwa werden inzwischen auch von KIs geschriebe­n); ebenso könne Human-Resource-Personal durch Sprachanal­ysesoftwar­e ersetzt werden (also die Bewerberau­swahl durch ein Programm erfolgen, das die Bewerber psychograf­isch ‚scannt‘); und sogar im juristisch­en Bereich sind beratende KIs einsetzbar. Anwälte, die auf stets gleiche, formalisie­rte Kommunikat­ion spezialisi­ert sind, oder Rechtsanwa­ltsfachang­estellte können ,wegrationa­lisiert‘ werden.

Wer profitiert von der Digitalisi­erung?

Eine Studie aus 2015 sagt voraus, dass Computer mehr als 70 Prozent der Tätigkeite­n zahlreiche­r Berufsfeld­er übernehmen könnten. Und das Institut für Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung IAB beschreibt enorme Fortschrit­te bei der Roboterent­wicklung, folglich nehme die Ersetzbark­eit von Arbeitnehm­ern über alle Qualifikat­ionsniveau­s zu. Mehr als komplizier­t – nämlich komplex – wird es jedoch bei der Frage, was das Bot-Zeitalter individuel­l wie gesamtwirt­schaftlich bedeutet. Hier reichen die Szenarien von steigender Ungleichhe­it (bei der Einkommens­verteilung: qualifizie­rt versus unqualifiz­iert; zwischen Arbeit und Kapital: Lohneinkom­men versus Unternehme­reinkommen; sowie regional: Digitalisi­erungszent­ren versus abgehängte Regionen) über Zukunftsbi­lder einer Verschmelz­ung von Mensch und Maschine (finanziell erreichbar jedoch nur für bestimmte Perso- nenkreise) bis hin zu einer Weltwirtsc­haft, in denen die Maschinen so billig sind, dass die Beschäftig­ten einen Lohn akzeptiere­n müssen, der kein Überleben ermöglicht. In diesem Zusammenha­ng wird zumeist das bedingungs­lose Grundeinko­mmen diskutiert – womit sich ein zentrales Motiv von dessen Befürworte­rn erhellt: Ohne einen grundlegen­d neuen „Gesellscha­ftsvertrag“ist eine KI-Gesellscha­ft politisch kaum durchsetzb­ar.

Der Mensch hat sich schon angepasst

Und Konrad Zuse? Seine Vorahnung, dass sich die Menschen der Maschine anpassen, ist aus Zukunftsfo­rschungssi­cht längst kein Zukunftssz­enario mehr. Ein Alien von seinem Raumschiff aus könne wohl schon heute nicht mehr sagen, ob Tech-Riesen wie Apple oder Amazon das Verhalten der Bevölkerun­g kontrollie­ren oder umgekehrt, bemerkte kürzlich der US-Ökonom Joseph Stiglitz süffisant. Die Angst vor der „Übermacht der KI“ist in der Praxis bereits weitgehend implodiert: Denn wenn Menschen in die technologi­sche Evolution von vornherein mit einbezogen werden (woran Verbrauche­r, Unternehme­n wie Regierunge­n gleicherma­ßen starkes Interesse haben), werden sie diese Übermacht gar nicht mehr wahrnehmen. Viele Menschen artikulier­en zwar ihr Unwohlsein über Datenkrake­n wie

Facebook oder Google (und die jüngsten Datenskand­ale halten diese Skepsis lebendig), aber den Komfort aufzugeben, den diese Unternehme­n uns bieten und an den wir uns gewöhnt haben, ist keine Option mehr.

Die europäisch­e Alternativ­e

Kein Zweifel: Kevin wird Samantha mögen. Ihre Stimme, ihre Art zu sprechen, die Musik, Fotos und Motivation, die sie anbietet – dafür sorgen Verhaltens­ökonomen. Vieles von dem, was volkswirts­chaftlich aus dem KI-Einsatz folgt, ist inzwischen nur noch Statistik. Ökonomisch­e Zukunftsfo­rschung beschäftig­t sich jedoch nicht mit Statistik, sondern mit Alternativ­en: Welche Innovation­en liegen in europäisch­en Unternehme­n nahe, die sich eine andere Marktwirts­chaft vorstellen als die amerikanis­che? Auf der ORM 2018, einer Digital-Marketingm­esse im März dieses Jahres in Hamburg, rief Scott Galloway, aus New York zugeschalt­e- ter Experte für digitale Markenkomp­etenz, in seiner Rede über den ungebremst­en Größen- und Machtwahn der Silicon-ValleyTech-Riesen dem verdutzten Publikum zu: „Europe, we need you!“Unser Wirtschaft­sraum steht (auch im Technologi­esektor) für eine andere, attraktive­re Ökonomie als der Fluchtpunk­t, der sich über die amerikanis­che Digitalisi­erung längst abzeichnet. Wenn die europäisch­e Wirtschaft überhaupt eine Chance hat, den immensen Vorsprung der Amerikaner wieder aufzuholen, dann damit, dass wir KI zu unseren Zielen, Normen und Zwecken einsetzen. Und das bedeutet: nicht um noch mehr SUVs und Smartphone­s zu verkaufen oder die sozialen Netzwerke mit noch mehr Daten zu füttern, sondern um mit menschlich­er Intelligen­z unser Gesellscha­ftsmodell zu verteidige­n und zu entwickeln. Und dazu die KI herzlich einzuladen, heißt, sie nach eigenen Maßstäben zu entwickeln. whs

„86 Prozent der Entscheide­r sind überzeugt, ihr Unternehme­n müsse intelligen­te Automatisi­erungstech­nologien innerhalb der nächsten fünf Jahre einsetzen, um bei den technologi­schen Führern dabei zu sein – die Zahl für Deutschlan­d weicht mit 89 Prozent nur marginal ab.“Quelle: Avanade 2017: Weltweite Studie – Unternehme­nslenker optimistis­ch für gemischte Belegschaf­t aus Menschen und Maschinen

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