Kevin allein im Büro
Vernichtet die Künstliche Intelligenz Massen an Arbeitsplätzen, oder schafft gerade sie neue? Ein Beitrag aus zukunftsforscherischer Sicht.
Schön, dass du da bist!“Als Samantha, der Cube auf Kevins Schreibtisch, nach ihrer allmorgendlichen Motivationsformel den Lichtschutz hochfahren und seinen speziellen Coffee vorbereiten lässt, weiß Kevin wieder, warum er mit KI zusammenarbeitet (seine von Lebensnöten geplagten Ex-Kollegen vermisst er längst nicht mehr). – Der Science-Fiction-Film HER macht so etwas nachvollziehbar, bis hin zu Liebesbeziehungen: Neuro-Enhancement (Förderung der geistigen Leistungsfähigkeit), Gesundheitsbetreuung und mentale Streicheleinheiten genau dann, wenn man sie braucht. Und Debatten über angsteinflößende Künstliche Intelligenz? Wirken hier geradezu absurd. Dass es so kommen könne, ist eine frühe Intuition zahlreicher KI-Experten, unter anderem von Konrad Zuse: „Die Gefahr, dass der Computer so wird wie der Mensch, ist nicht so groß wie die Gefahr, dass der Mensch so wird wie der Computer.“Aus Sicht der wissenschaftlichen Zukunftsforschung ist ein solches Szenario durchaus begründet, aus simplen wie komplizierten Gründen: aus simplen, weil Europa wie die ganze Welt dem US-Technologieleitbild folgt und KI, Big Data beziehungsweise die Digitalisierung als betriebswirtschaftliche Selbstläufer versteht. Die globale Ökonomie steckt in einem Rat Race, bei dem gilt: Wer zuerst kommt, definiert neue Märkte. Dieses (in Sachen KI selbstzweckhafte) Mindset ist inzwischen messbar: Fast 90 Prozent der befragten Entscheider aus einer Studie von 2017 sind überzeugt, ihr Unternehmen müsse in den nächsten fünf Jahren intelligente Automatisierungstechnologien einsetzen – in der Hoffnung auf Kostensenkungen, die Kapazitäten für Innovationen schaffen. Die gleichzeitig vorhandene Skepsis vieler Unternehmen („Verschlingt Geld für Programme“, „Benötigt Zeit für Auswahl und Einarbeitung“, „Erfordert Spezialisten“) wird von der IT-Industrie mit der Behauptung gekontert, dass eine schnelle Umsetzung weniger koste als die spätere Aufholjagd.
Negative Prognosen
Bei der Frage nach Konsequenzen für den Arbeitsmarkt wird es denn auch komplizierter. Solche Prognosen sind bislang Kaffeesatzleserei: Jeder pflegt seine Weltsicht – und gegenläufige Effekte (Überschätzung von Technologien, Wandel von Berufsbildern, neue gesetzliche Regulierungen, Trend-Umkehrungen, Disruptionen etc.) werden kaum berücksichtigt. Eine erste Untersuchung dazu gab den alarmistischen Duktus der Debatte vor. Eine Studie der Oxforder Wissenschaftler Frey und Osborne sagte 2013 voraus, dass 47 Prozent der US-Beschäftigten in Berufen arbeiten, die in den nächsten 10 bis 20 Jahren automatisiert werden (können). Dabei schockierten vor allem die Aussagen über als gefährdet eingeschätzte Berufsgruppen: Nicht nur
sollen einfache Büroangestellte, Buchhalter (94 Prozent Automatisierungschance) oder Versicherungsvertreter (92 Prozent) zu den Verlierern zählen, sondern auch Wissensarbeiter und „Kreative“(gut lesbare Zeitungsartikel etwa werden inzwischen auch von KIs geschrieben); ebenso könne Human-Resource-Personal durch Sprachanalysesoftware ersetzt werden (also die Bewerberauswahl durch ein Programm erfolgen, das die Bewerber psychografisch ‚scannt‘); und sogar im juristischen Bereich sind beratende KIs einsetzbar. Anwälte, die auf stets gleiche, formalisierte Kommunikation spezialisiert sind, oder Rechtsanwaltsfachangestellte können ,wegrationalisiert‘ werden.
Wer profitiert von der Digitalisierung?
Eine Studie aus 2015 sagt voraus, dass Computer mehr als 70 Prozent der Tätigkeiten zahlreicher Berufsfelder übernehmen könnten. Und das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB beschreibt enorme Fortschritte bei der Roboterentwicklung, folglich nehme die Ersetzbarkeit von Arbeitnehmern über alle Qualifikationsniveaus zu. Mehr als kompliziert – nämlich komplex – wird es jedoch bei der Frage, was das Bot-Zeitalter individuell wie gesamtwirtschaftlich bedeutet. Hier reichen die Szenarien von steigender Ungleichheit (bei der Einkommensverteilung: qualifiziert versus unqualifiziert; zwischen Arbeit und Kapital: Lohneinkommen versus Unternehmereinkommen; sowie regional: Digitalisierungszentren versus abgehängte Regionen) über Zukunftsbilder einer Verschmelzung von Mensch und Maschine (finanziell erreichbar jedoch nur für bestimmte Perso- nenkreise) bis hin zu einer Weltwirtschaft, in denen die Maschinen so billig sind, dass die Beschäftigten einen Lohn akzeptieren müssen, der kein Überleben ermöglicht. In diesem Zusammenhang wird zumeist das bedingungslose Grundeinkommen diskutiert – womit sich ein zentrales Motiv von dessen Befürwortern erhellt: Ohne einen grundlegend neuen „Gesellschaftsvertrag“ist eine KI-Gesellschaft politisch kaum durchsetzbar.
Der Mensch hat sich schon angepasst
Und Konrad Zuse? Seine Vorahnung, dass sich die Menschen der Maschine anpassen, ist aus Zukunftsforschungssicht längst kein Zukunftsszenario mehr. Ein Alien von seinem Raumschiff aus könne wohl schon heute nicht mehr sagen, ob Tech-Riesen wie Apple oder Amazon das Verhalten der Bevölkerung kontrollieren oder umgekehrt, bemerkte kürzlich der US-Ökonom Joseph Stiglitz süffisant. Die Angst vor der „Übermacht der KI“ist in der Praxis bereits weitgehend implodiert: Denn wenn Menschen in die technologische Evolution von vornherein mit einbezogen werden (woran Verbraucher, Unternehmen wie Regierungen gleichermaßen starkes Interesse haben), werden sie diese Übermacht gar nicht mehr wahrnehmen. Viele Menschen artikulieren zwar ihr Unwohlsein über Datenkraken wie
Facebook oder Google (und die jüngsten Datenskandale halten diese Skepsis lebendig), aber den Komfort aufzugeben, den diese Unternehmen uns bieten und an den wir uns gewöhnt haben, ist keine Option mehr.
Die europäische Alternative
Kein Zweifel: Kevin wird Samantha mögen. Ihre Stimme, ihre Art zu sprechen, die Musik, Fotos und Motivation, die sie anbietet – dafür sorgen Verhaltensökonomen. Vieles von dem, was volkswirtschaftlich aus dem KI-Einsatz folgt, ist inzwischen nur noch Statistik. Ökonomische Zukunftsforschung beschäftigt sich jedoch nicht mit Statistik, sondern mit Alternativen: Welche Innovationen liegen in europäischen Unternehmen nahe, die sich eine andere Marktwirtschaft vorstellen als die amerikanische? Auf der ORM 2018, einer Digital-Marketingmesse im März dieses Jahres in Hamburg, rief Scott Galloway, aus New York zugeschalte- ter Experte für digitale Markenkompetenz, in seiner Rede über den ungebremsten Größen- und Machtwahn der Silicon-ValleyTech-Riesen dem verdutzten Publikum zu: „Europe, we need you!“Unser Wirtschaftsraum steht (auch im Technologiesektor) für eine andere, attraktivere Ökonomie als der Fluchtpunkt, der sich über die amerikanische Digitalisierung längst abzeichnet. Wenn die europäische Wirtschaft überhaupt eine Chance hat, den immensen Vorsprung der Amerikaner wieder aufzuholen, dann damit, dass wir KI zu unseren Zielen, Normen und Zwecken einsetzen. Und das bedeutet: nicht um noch mehr SUVs und Smartphones zu verkaufen oder die sozialen Netzwerke mit noch mehr Daten zu füttern, sondern um mit menschlicher Intelligenz unser Gesellschaftsmodell zu verteidigen und zu entwickeln. Und dazu die KI herzlich einzuladen, heißt, sie nach eigenen Maßstäben zu entwickeln. whs
„86 Prozent der Entscheider sind überzeugt, ihr Unternehmen müsse intelligente Automatisierungstechnologien innerhalb der nächsten fünf Jahre einsetzen, um bei den technologischen Führern dabei zu sein – die Zahl für Deutschland weicht mit 89 Prozent nur marginal ab.“Quelle: Avanade 2017: Weltweite Studie – Unternehmenslenker optimistisch für gemischte Belegschaft aus Menschen und Maschinen