Die Krankheit der Angehörigen
Expertin Anja Kälin über Demenz-Symptome, den oft schleichenden Verlauf und wie ein liebevolles Miteinander gelingen kann
Was können erste Anzeichen einer Demenz sein, Frau Kälin? Das ist unterschiedlich; Demenz ist nicht gleich Demenz. Man geht von bis zu 50 Formen aus. Die bekannteste und häufigste ist Alzheimer. Bei dieser Krankheit fällt es den Betroffenen oft schwer, die richtigen Worte zu finden. Auch das Kurzzeitgedächtnis ist früh betroffen. Generell sollte man aufmerksam werden, wenn Alltagskompetenzen verloren gehen: Terminabsprachen werden nicht mehr eingehalten, der Autoschlüssel wird ständig verlegt, oder die Kaffeemaschine kann nicht mehr bedient werden. Zeigt jede Demenz sich so klar? Nein. Ist der Stirnlappen betroffen, ist die Symptomatik eher diffus. Hier werden die Emotionen gesteuert. Dadurch kommt es zu Veränderungen im sozialen Verhalten: Der Mensch erscheint unempathisch, wirkt in Gesprächen desinteressiert. Häufig wird das mit Depression oder Burnout verwechselt. Bemerken die Betroffenen die Veränderungen selbst? In vielen Fällen ja – das macht Angst. Die Betroffenen versuchen, andere und sich selbst zu überzeugen, dass alles in Ordnung ist. Sie schreiben Zettel, tragen sich Termine extradick in den Kalender ein, benutzen in Gesprächen Floskeln. Was sollte ich tun, wenn ich solche Veränderungen feststelle? Der Weg zum Arzt ist der wichtigste Schritt. Das kann der Hausarzt oder ein Neurologe sein. Mein Tipp: Direkt in eine Gedächtnisambulanz gehen. Dort bekommt man schnell eine differenzierte Diagnose. Je besser ich das Krankheitsbild verstehe, desto besser kann ich darauf reagieren. Was löst die Diagnose aus? Viele Angehörige verfallen sofort in den Funktioniermodus und nehmen dem Betroffenen alles ab. Der Erkrankte erfährt die Diagnose dadurch als Stigma. Durch die Demenz wird man aber nicht von jetzt auf gleich hilfsbedürftig. Das ist ein schleichender Prozess, der sich über Jahre hinziehen kann. Besser: gemeinsam einen Umgang mit der Krankheit finden. Den Betroffenen fragen, wie er sich die Unterstützung vorstellt, was er braucht. Was brauchen Betroffene denn? Wertschätzung. Sie möchten als Mensch gesehen werden. Statt ständig auf das zu gucken, was nicht mehr läuft, den Fokus lieber auf die Bereiche legen, die noch funktionieren. Kommunikation sollte immer auf Augenhöhe stattfinden. Auch rein physisch. Viele Betroffene empfinden es als Bedrohung, wenn sie von oben herab angesprochen werden. Wie geht man mit Erinnerungslücken um? Das hängt von der Situation ab. Beim Anschauen alter Fotos würde ich das nicht korrigieren. Dann sind das eben verschiedene Wahrnehmungen der Realität. Geht es um einen vermasselten Termin, könnte man eine Einladung aussprechen: „Komm, wir machen was Neues aus.“Bei Gefahr sollte man mit fürsorglicher Autorität Grenzen setzen. Und wenn die Symptome schwerer werden? Je weiter fortgeschritten die Krankheit ist, desto wichtiger sind Routinen, eine klare Tagesstruktur, feste Ansprechpartner. Und eine freundliche, zugewandte Art, die Schutz und Orientierung bietet. Das ist sehr zeitintensiv. Eine fordernde Zeit für Familien … Man sagt nicht ohne Grund: „Demenz ist die Krankheit der Angehörigen.“Gerade im fortgeschrittenen Stadium geht es den Betroffenen meist gut. Dafür kommt die Familie an ihre Grenzen. Sie verliert eine nahestehende Person. Es ist bitter, wenn die Krankheit mir etwa meinen Ehemann nimmt, mit dem ich Lebenspläne hatte, der immer mein Gesprächspartner war. Wie sorgen Angehörige gut für sich? Sie brauchen unbedingt demenzfreie Inseln, wo sie Kraft schöpfen können. Viele empfinden es als illoyal, wenn sie einen Pflegedienst, eine Tagespflege oder ein Heim in Anspruch nehmen. Aber ohne Hilfe geht es nicht. Am besten baut man schon früh ein Netzwerk auf. Vielleicht kann auch mal der Nachbar meine demenziell erkrankte Mutter mitnehmen, wenn er mit dem Hund spazieren geht.
„ Umgang mit Demenz ist ein bisschen wie Impro-Theater. Man braucht viel Kreativität und Zugewandtheit“ Als Tochter einer erkrankten Mutter weiß Anja Kälin, wie herausfordernd der Alltag mit Demenz sein kann. Sie ist systemischer Coach, MitbegründerinvonDesideriaCare und begleitet betroffene Familien