Barth: Von kunstvollen Bibeln, einem Mondschein-Maler und dem Ostsee-Lied
Die pommersche Kleinstadt sollten Reisende nicht immer umfahren. Es gibt viel zu entdecken, und mancher meint sogar, dass die sagenhafte Stadt Vineta vor der Küste von Barth zu finden ist.
Die alte pommersche Kleinstadt Barth – slawischen Ursprungs – hat ein bärtiges Antlitz ins Stadtwappen gesetzt, obwohl volksetymologische Eindeutschungen slawischer Ortsnamen immer ins Abseits führen. In diesem Falle weist der ursprüngliche Wortsinn auf eine bescheidene Hügellage der alten Fischersiedlung hin: bardo. Den Ort (Stadtrecht um 1240) kann man längst in großem Bogen umfahren, wenn man von Süden her nach Zingst, dem Darß oder dem Fischland möchte.
Aber man kann natürlich auch dem Boddenstädtchen – knapp 9000 Einwohner – einen Besuch abstatten, schlendert die Lange Straße entlang in Richtung Markt und ist dann rasch am Hafen, der sich im Sommer in eine Freilichtbühne verwandelt. Die kennt oft ein Thema, nämlich Vineta – in immer neuen Versionen mit Laiendarstellern und Profis vom Anklamer Theater dargeboten. Der Fremde mag verblüfft sein, denn der sagenhafte in den Fluten versunkene Ort Vineta „wafelt“aller hundert Jahre um die Osterzeit erlösungsheischend aus den Wassern empor, soll aber eigentlich bei Koserow auf Usedom oder im längst polnischen Wollin, wenn nicht gar auf Nordrügen gelegen haben, oder, oder ...
Und damit sind wir schon inmitten der Literatur, denn in diesen Bereich gehört die berühmteste Ostsee-Sage sowieso. Die Stadt soll aufgrund sündhafter Prasserei ihrer reichen Einwohner zum Untergang verdammt worden sein und ist durch Selma Lagerlöfs „Nils Holgersson“Roman in die Weltliteratur gekommen: Der Däumling Nils , dem auf der Gänsereise ein pommerscher Storch eine nächtliche Visite auf Usedom ermöglicht, tritt achtlos eine gefundene Kleinmünze in den Sand und findet sich zufällig im plötzlich auferstandenen Vineta wieder, wo ihm Händler für geringstes Geld ihre Köstlichkeiten anbieten, ein Handelsvorgang würde hinreichen – vergeblich: Die Münze bleibt unauffindbar und die Wunderstadt versinkt unerlöst.
Sie soll an der Odermündung gelegen – und in Wirklichkeit Jumne geheißen haben. Odermündung damals: Das hieß für die Forscher Goldmann und Wermusch ein zerfasertes Delta mit dem westlichen Mündungssarm bei Barth – etwa dem Lauf des Flüsschens Barthe entsprechend. Keine Frage, dass diese These hierorts auf Gegenliebe stieß und das umtriebige Anklamer Theater, das bereits die Zinnowitzer VinetaSpiele ins Leben gerufen hatte, auch den Barther Touristen ihre ortsbezogene Unterhaltung bietet. Auch das Museum in der Langen Straße 16 heißt nun nach dem Sagenort und lockt mit gediegenen Sonderausstellungen
(jüngst etwa zu Ernst Moritz Arndt. Der hatte sich übrigens mit der Barther Apotheker-Tochter Charlotte Bindemann verlobt!), aber natürlich auch mit allem Nötigen zu Stadtgeschichte.
Perfektion der Bilder bezaubert bis heute
Der 100. Todestages des 1924 in Barth verstorbenen spätromantischen „Mondscheinmalers“Louis Douzette ( geb.1834) fällt zufällig mit dem 250. Geburtsjubiläum seines großen Anregers Caspar David Friedrich zusammen und ist Anlass, im Vineta-Museum, Nachlasserbe des Barther Ehrenbürgers, eine Sonderschau zu zeigen. Die Lichteffekte und malerische Perfektion der Bilder bezaubern noch heute. Seine Gemälde erreichen bei Auktionen wie in Ahrenshoop regelmäßig Spitzenpreise.
Doch zurück zur Literatur, der mit dem letzten slawischen Rügenfürsten Witzlaw III. (1265? –1325) ein besonderer Vertreter zuwuchs: Er war Minnesänger, mit einer Ausbildung beim Meister Ungelarde in Stralsund. Von ihm stammen in der Jenaer Liederhandschrift festgehaltene Liedtexte, es sind zudem fixierte Noten überliefert. Da er zugleich handfest in feudale Händel verwickelt war, konnte er nicht dem üblichen Umherschweifen der Dichterkollegen frönen, sondern musste schon in der Nähe seines Besitzes verbleiben. Erbenlos gestorben fand er sein Grab in der Neuenkamper Klosterkirche (Franzburg). Sein ehemaliger Herrschaftssitz in Barth wurde übrigens in der Barockzeit umgewandelt zum adligen Fräuleinstift.
Ein tragisches Schicksal ist mit dem poeta laureatus und Gelehrten Zacharias Orth verbunden, der – in Stralsund 1535 geboren – ein unstetes Wanderleben führte und schließlich verarmt und verbittert 1579 in Barth verstarb. Wien, Italien, Wittenberg, Königsberg, Greifswald, Rostock, Lübeck, Tübingen, Frankreich – nirgends fand er eine sichere Heimstatt. Der kaufmännisch orientierte Norden wusste mit dem Übersetzer und Vermittler antiker Dichtung wenig zu beginnen, ein Lobeshymnus auf Stralsund erbrachte ein beleidigendes Almosen. Die letzte Unterkunft fand er beim Stadtsekretär von Barth. Seine reichhaltige Bibliothek vermachten die Erben der Stadt Stralsund.
Ein Ruhmesblatt früher Buchdruckkunst haben wir mit der Herzoglichen Druckerei Barth (1582-98) vor uns, in der der Drucker Hans Witte 1588 die Barther Bibel mit kunstvollen Holzschnitten des Hamburger Goldschmiedes Jacob Mores d. Ä. in mittelniederdeutscher Sprache herstellte. Sie ist seit 2001 Kernstück des damals eröffneten Bibelzentrums, das im restaurierten Gebäudekomplex aus Resten der 1380 erbauten Hospitalkirche eingerichtet wurde (Sundische Str. 52). Das Zentrum versteht sich als Bildungsstätte für den schulischen Bereich und bietet Kurse und Programme und einen Kräutergarten mit „biblischen Pf lanzen“.
Die St. Marienkirche aus dem 13. Jahrhundert ist nicht nur das zentrale Baudenkmal des Ortes, sondern auch für den Geist der Aufklärung von besonderer Wichtigkeit, denn hier wirkte als Prediger und Präpositus Johann Joachim
Spalding (1714-1804) um 1760 über sieben Jahre und verfasste Schriften ganz im Geiste des 10 Jahre jüngeren Immanuel Kant, unter anderem „Gedanken über den Wert der Gefühle im Christentum“(1761) und „Religion eine Angelegenheit des Menschen“(1797). Sein europaweiter Ruf veranlasste unter anderem Johann Caspar Lavater (1741-1801), den Schweizer Aufklärer, Prediger , Philosophen gemeinsam mit dem Maler Füssli zu einer Bildungsreise nach Barth. Ein Kupferstich zeigte die Barth-Reisenden beim Zusammensein mit Spaldings Familie in der Laube hinterm Pfarrhaus. Die ehrenvolle Berufung Spaldings als Probst an die Berliner Nikolaikirche brachte zwar eine gute Beziehung zu dem Berliner Aufklärern um Nicolai, Mendelsson und die Bekanntschaft mit „Vater“Gleim, Ewald von Kleist und Lessing, aber schließlich auch Querelen mit der preußischen Regierung, die ihn verbittert aus dem Amt scheiden ließen.
Manchem mag es als Sakrileg erscheinen, wenn hierfür das frühe 20. Jahrhundert nicht mit jemandem aus der langen Liste von verdienstvollen Lokalhistorikern geschlossen wird, sondern mit Martha MüllerGrählert (1876-1939), Verfasserin des Ostseeliedes, fast einer Pommernhymne. In armen Verhältnissen in Barth geboren hatte sie sich zur Lehrerin ausbilden lassen, bis sie ins Zeitungsfach wechselte und sich nach bewegtem Leben mit zahlreichen Gedichten im Pommernplatt und durch Lesungen als „Mudder Möllersch“in die Herzen ihrer Lesergemeinde gebracht hat. Reichtum hat sie nicht erwerben können. Eine liebenswerte Gedenkstätte existiert in der Langen Straße, wo die Erben des Barther Zeitungsverlegers Dahlfeld eine Gesamtausgabe ihrer verstreut erschienenen Arbeiten anstreben. Die Dichterin starb verarmt im Franzburger Altersheim und wurde im letzten Wohnort in Zingst in einem Ehrengrab der Gemeinde beigesetzt.