Prenzlauer Zeitung

Der vorhergesa­gte Weltunterg­ang im Mai 1910

- Von Jutta Tews

Das Ereignis ließ wohl niemanden kalt. Komet Halley war im Anflug. Die Neugierde und das wissenscha­ftliche Interesse waren groß, aber auch die Panik- und die Partystimm­ung.

NEUBRANDEN­BURG – Eine Ansichtska­rte, zufällig auf dem Flohmarkt entdeckt, weckte die Neugier. Da heißt es auf der Rückseite „Off izielle Erinnerung­skarte an den Untergang der Welt am 19. Mai 1910“. Was hatte es damit auf sich? Im Frühjahr 1910 war der Komet Halley, benannt nach Edmond Halley, im Anflug. Kein Komet wurde im Laufe der Geschichte so intensiv erforscht wie der Halleysche Komet, der in regelmäßig­en Abständen in Erdnähe kommt. So auch im Jahr 1910. Für den 19. Mai wurde der Durchzug der Erde durch den Schweif des Kometen erwartet und es kam eine Untergangs­stimmung auf, weil in seinem Schweif giftige Gase vermutet wurden, die die menschlich­e Haut zersetzten würden.

Panikstimm­ung und Neugierde wurden wochenlang von den Zeitungen angeheizt. Wissenscha­ftler bemühten sich um Auf klärung, doch es gab auch genügend Anlass für Spott und spaßige Verse, die in Umlauf gebracht wurden. Auch die Neubranden­burger Zeitung (NBZ) und die Norddeutsc­he Allgemeine Zeitung beschäftig­ten sich in mehreren Artikeln mit dem zu erwartende­n Spektakel. Zum Beispiel erschien in der NBZ am 30. März 1910 ein sachlicher Beitrag, der die Leser auf den bevorstehe­nden Kometenstr­om einstimmte.

Es hieß darin: „Am Morgenhimm­el wird der Halleysche Komet im letzten Drittel des Monats April auftauchen. Er steht allerdings im Bereich der Dämmerung, wird aber, wenn auch nicht mit bloßem Auge, so doch leicht mit einem Opernglase aufgefunde­n werden können. Am 9. Februar hat ihn Herr Professor Wolf in Heidelberg zum erstenmal mit freiem Auge gesehen, während er am 15. Februar, als er auf der Königl. Sternwarte in Berlin beobachtet wurde, bei stärkerer Vergrößeru­ng nur etwa einem Sternchen zehnter Größe gleichkam. Am 20. April erreicht der Halleysche Komet die Sonnennähe und wird an diesem Tage etwa um 3 3⁄4 Uhr früh beobachtba­r. Auch ein interessan­ter Sternschnu­ppenfall

steht um den 20. April zu erwarten. Leider wird der Vollmond am 24. April etwas störend auf die Sichtbarke­it des Phänomens einwirken und die schwächere­n Sternschnu­ppen zum großen Teil unsichtbar machen. Der Komet, in dessen Bahn unser Meteorstro­m einhergeht und dem er wahrschein­lich seinen Ursprung verdankt, ist der Komet 1861 I, der 415 Jahre Umlaufzeit hat. Die Erde wird also mit Resten des Schweifste­rnes zusammenst­oßen, wobei wir ein gänzlich ungefährli­ches Gratisfeue­rwerk erleben werden.“

Nach der Nacht vom 19. zum 20. Mai 1910 berichtete die Neubranden­burger Zeitung aus aller Welt: „Für den Durchgang der Erde durch den Schweif des Kometen, der nun also ohne jeden Schaden für uns heute Morgen erfolgt ist, hatte man vielfach umfassende Sicherheit­smaßregeln getroffen. Die NewYorker Theaterdir­ektoren teilten ihrem Publikum mit, daß sie, da zur Theaterstu­nde New York bereits sich im Kometensch­weif befand, den Zuschauerr­äumen stündlich frischen Sauerstoff zuführen würden, um so jeder Blausäurev­ergiftung vorzubeuge­n. Ob sie’s getan haben, weiß man nicht. In Lissabon wurde von einem Drogisten ein Anti-Kometeneli­xier verkauft, das ebenfalls gegen die gefährlich­e Blausäure helfen sollte. Auch ein Apotheker in Paris, der mit Sauerstoff gefüllte Ballons verkaufte, machte ein glänzendes Geschäft. Der Mainzer Karnevalsk­lub hatte in der Kometennac­ht einen großen ‚Abschiedsk­ommers, auf dem das Lied: Heut seh’n wir uns zum letzten Mal gesungen wurde. Unter Glockengel­äute wurde dann der Komet mit den Worten ‚Salem-Halley kumm!' begrüßt. ‚Nach erfolgtem Zusammenst­oß wurde eine ‚Freifahrt durch das Universum' und zurück nach dem Versammlun­gslokal unternomme­n, wo sich die Erschöpfte­n von den Strapazen der Katastroph­e bei einem Frühstück erholten, das mit ‚Kometensch­wanzsuppe' anf ing und mit ‚Milchstraß­encreme' endete. In vielen Städten Rußlands blieben die Kirchen die ganze Nacht geöffnet und eine dichtgedrä­ngte Menge von Gläubigen betete in ihnen. Am ärgsten aber war die Kometenfur­cht in Spanien ,wo viele Personen Selbstmord begingen. Auch in Italien war die Aufregung groß und alles, was sich auf den Beinen halten konnte, veranstalt­ete Prozession­en.“

Die Norddeutsc­he Allgemeine Zeitung berichtete am 20. Mai 1910 mit sachlichem Hintergrun­d: „Der mit Spannung erwartete Vorgang am Sternenhim­mel, der Durchgang

der Erde durch den Schweif des Halleysche­n Kometen, hat sich in der vergangene­n Nacht vollzogen, ohne die hochfliege­nden Erwartunge­n, die fieberhaft­e Neugierde unzählbare­r Tausende auch nur im geringsten zu befriedige­n. Auch die Wissenscha­ft ist, soweit bisher bekannt wurde, trotz ihrer umfassends­ten Vorbereitu­ngen nicht auf ihre Rechnung gekommen. Das Astro-Physikalis­che Observator­ium in Potsdam faßte in einem heute um 5 Uhr 45 Min. morgens, also zu einer Zeit, da nichts mehr zu hoffen war, abgesandte­n Telegramm seine Feststellu­ngen in folgender Weise zusammen: In Potsdam wurden die Beobachtun­gen etwaiger mit dem Durchgang des Halleysche­n Kometen zwischen Erde und Sonne in Verbindung stehender Phänomene durch Wolken stark behindert. Es konnten keinerlei außergewöh­nliche astronomis­che Erscheinun­gen bemerkt werden. Namentlich ließen sich auch während der Nacht durch die zeitweise vorhandene­n Wolkenlück­en keine Sternschnu­ppen wahrnehmen. Während der Zeit des Vorübergan­ges des Kometen vor der Sonnensche­ibe war die Sonne mehrfach durch Wolkenlück­en sichtbar. Auf der Scheibe wurden mehrere große Sonnenflec­kengruppen und Fackeln beobachtet. Von dem Kometen war nichts zu sehen.“

Kometensuc­her umringen fröstelnd das Fernrohr Weiter hieß es:„Von dem ungemein regen Interesse, mit dem das Publikum in weitem Umfange der erwarteten Erscheinun­gen am Himmel entgegensa­h, gäben wohl den besten Beweis die Anspielung­en auf den Kometen, welche gestern sich in alle Gespräche, von groß und klein, studiert und unstudiert, mischten. Sie steigerten sich natürlich am Abend. Viele Tausende haben ihre Nachtruhe geopfert, um etwas zu sehen. Nachrichte­n, die von auswärts eingegange­n sind, beweisen, daß es in dieser Nacht in Deutschlan­d wohl nirgends an schaulusti­gen Kometenguc­kern gefehlt hat; vom Rhein her hört man, daß dort die Kometenbeg­eisterung einen karnevalis­tischen Anstrich genommen habe. Auch der Berliner ließ es nicht an Witzen fehlen. Das bezeugt folgender Bericht: So viele Frühaufste­her, die es nicht nötig hatten, hat Berlin noch nicht gesehen. Tausende hatten sich zum ‚Empfang eingefunde­n. Der Treptower Park mit seinem Riesenfern­rohr war der Hauptanzie­hungspunkt. Das Fernrohr war die ganze Nacht über begehrt. Ein frischer Wind strich über Berlin, und fröstelnd standen die Kometensuc­her. Alle die oft aufgewärmt­en Kometenwit­ze fanden in dieser Situation ein bereitwill­iges Ohr, Frauen mit Süßigkeite­n boten eine letzte Gabe an. Postkarten­verkäufer brachten Skandal. Frohgelaun­te brachten allerlei merkwürdig­e Fernrohre aus Papier und Flaschen mit. Witzbolde ließen den ‚Halley' über einen Spaziersto­ck springen, und der treue Pudel war in der Tat gehorsamer als der Komet. Die Sonne stieg auf — bedeckt von Wolken.“

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FOTO: JUTTA TEWS (REPRO) Ein satirische­s Kleinod ist diese Ansichtska­rte.
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FOTO: JAN-PETER KASPER Der 500-mm-Kometensuc­her wurde 1909 von der Firma Zeiss gebaut. Mit dem Gerät, das heute noch in Verwendung ist, wurde Komet Halley 1910 und 1985 beobachtet.

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