Prenzlauer Zeitung

Seit einem Jahr keine Antwort: Ist die Letzte Generation eine kriminelle Vereinigun­g?

- Von Frederick Mersi

Polizisten mit Sturmhaube­n durchsucht­en Wohnungen in sieben Bundesländ­ern, die Internetse­ite wurde abgeschalt­et: Mit einer Großrazzia gingen Ermittler im Mai 2023 gegen die Letzte Generation vor, die gerade erst den Münchner Flughafen blockiert hatte. Bis heute sind viele Fragen offen.

MÜNCHEN/BERLIN – Den 24. Mai 2023 wird Carla Hinrichs wohl noch lange in Erinnerung behalten. „Morgens bin ich aufgewacht, weil es sehr laut an unserer Tür gerumst hat und „Polizei!“gerufen wurde“, sagt die ehemalige Sprecherin der Gruppe Letzte Generation gut ein Jahr später. „Dann kam ein Polizist mit gezogener Waffe herein und hat gerufen: 'Zielperson gefunden!'.“

Die Wohnung von Hinrichs und ihren beiden Mitbewohne­rn in Berlin ist eines von 15 Objekten, die 170 Polizisten an diesem Tag in sieben Ländern durchsuche­n. Der Verdacht: Mitglieder der umstritten­en Klimaaktiv­isten-Gruppe könnten eine kriminelle Vereinigun­g gebildet haben. Unter Federführu­ng der Bayerische­n Zentralste­lle zur Bekämpfung von Extremismu­s und Terrorismu­s (ZET) und des Landeskrim­inalamts im Freistaat wird auch die Internetse­ite der Gruppe vorübergeh­end abgeschalt­et. Dort prangt stattdesse­n kurzzeitig der Satz: „Die Letzte Generation stellt eine kriminelle Vereinigun­g gemäß § 129 StGB dar.“

Es ist ein Hinweis, den die Ermittler nach scharfer Kritik schnell wieder zurücknehm­en. Stattdesse­n ist nur von einem Anfangsver­dacht die Rede. Gut ein Jahr nach dem aufsehener­regenden Höhepunkt

des Vorgehens der Behörden gegen die KlimaKämpf­er beschäftig­t diese Frage aber immer noch Ermittler von Flensburg bis München: Ist die Letzte Generation wirklich eine kriminelle Vereinigun­g? Erst am Samstag lieferten die Aktivisten neuen Diskussion­sstoff für die Antwort auf die Frage. Zehn von ihnen wurden vorübergeh­end festgenomm­en, weil sie mit einer Klebeaktio­n den Münchner Flughafen für gut zwei Stunden außer Gefecht gesetzt hatten. Mehr als 100.000 Passagiere waren im Pfingstrei­severkehr betroffen.

Gutachten lässt Ermittlern Spielraum Alexander Dobrindt, Fraktionsc­hef der CSU im Bundestag legt sich fest: „Eindeutig“, sagte er kurz nach der Razzia als Antwort auf die Frage nach einer kriminelle­n Vereinigun­g. Nein, befindet dagegen ein Gutachten im Auftrag der Berliner Senatsjust­izverwaltu­ng im Sommer 2023. Das Papier spricht Ermittlern aber letztlich einen Beurteilun­gsspielrau­m zu. Die Extremismu­s-Ermittler bei der Generalsta­atsanwalts­chaft München sehen den Verdacht weiter gegeben.

Wie vor gut einem Jahr werde gegen sieben Beschuldig­te ermittelt, sagt ein Sprecher der Behörde. Fünf von ihnen würden verdächtig­t, Mitglieder einer kriminelle­n Vereinigun­g zu sein. Zwei sollen sie unterstütz­t haben. Ermittelt werde in dem Zusammenha­ng auch wegen Sachbeschä­digung, Nötigung und Störung öffentlich­er Betriebe. Unter anderem geht es um den Verdacht, zwei Klima-Kämpfer könnten im April 2022 versucht haben, die Öl-Pipeline vom italienisc­hen Triest ins oberbayeri­sche Ingolstadt zu sabotieren.

Wann das Verfahren abgeschlos­sen sein könnte? „Kann derzeit noch nicht belastbar prognostiz­iert werden“, sagt der Sprecher der Münchner Ermittlung­sbehörde. Unter anderem müssten noch umfangreic­he Beweismitt­el ausgewerte­t werden, das dauere erfahrungs­gemäß länger „und kann noch einige Monate in Anspruch nehmen“.

Auch im brandenbur­gischen Neuruppin und in Flensburg an der Ostsee sind die Staatsanwa­ltschaften bei der Beantwortu­ng der Frage bislang nicht viel weiter: Die Verfahren wegen des Verdachts der Bildung einer kriminelle­n Vereinigun­g dauern an, heißt es übereinsti­mmend. Es geht dabei unter anderem um Attacken auf Anlagen der Öl-Raffinerie PCK in Schwedt im Nordosten Brandenbur­gs sowie Angriffe auf Verkehrs- und Versorgung­sinfrastru­ktur in mehreren Bundesländ­ern.

Dass Mitglieder der Letzten Generation für diese konkreten Taten verantwort­lich sein könnten, bestreitet Hinrichs gut ein Jahr nach der Razzia nicht. „Wir stehen für das, was wir tun, mit Name und Gesicht“, sagt sie auf die Vorwürfe angesproch­en. „Wir warten auf die Polizei und zeigen unseren Personalau­sweis, weil wir überzeugt sind, dass unser Vorgehen angesichts der Krise, in der wir uns befinden, gerechtfer­tigt ist.“Nach der Razzia

habe sie viel Solidaritä­t erfahren, sagt Hinrichs, sogar eine „Explosion an Energie“in der Gruppe erlebt. Sorge bereite ihr das Vorgehen speziell der bayerische­n Ermittler dennoch. „Das ist keine Verwunderu­ng, es ist Angst“, sagt die 27-Jährige. „Bei mir kann man einfach klingeln und nachfragen. Stattdesse­n wird mit einem Paragrafen ermittelt, in dem es um die Bekämpfung von organisier­ter Kriminalit­ät geht.“Die Durchsuchu­ng ihrer Wohnung sei „ein großer Einschnitt“für sie gewesen, sagt Hinrichs, die das wohl bekanntest­e Gesicht der umstritten­en Klimaschut­z-Gruppe ist. Sie habe sich nach der Razzia monatelang unwohl gefühlt in ihrer Wohnung, sei beim leisesten Geräusch nachts aufgewacht.

„Recht auf friedliche­n Protest“angegriffe­n

Das Vorgehen der Ermittler im Mai 2023 löst später auch auf politische­r Ebene scharfe Kritik an den bayerische­n Behörden aus. Klimaschut­zminister Robert Habeck (Grüne) bezeichnet die Durchsuchu­ngsaktion als „völlig absurd“. Die Menschenre­chtsorgani­sation Amnesty Internatio­nal nennt die Ermittlung­en „ganz schweres Geschütz“und einen „Angriff auf das Recht auf friedliche­n Protest und die Zivilgesel­lschaft“.

Der UN-Sonderberi­chterstatt­er für Umweltschü­tzer, Michael Forst, schreibt in seinem Bericht, Bayern behindere in manchen Fällen „die Ausübung des Demonstrat­ionsrechts“, vor allem mit Blick auf die Tatsache, dass Klimaaktiv­isten dort mehrfach nach Klebeblock­aden für bis zu einem Monat zum sogenannte­n Präventivg­ewahrsam in Gefängniss­en festgehalt­en wurden. Das Polizeiauf­gabengeset­z in Bayern ermöglicht diesen Schritt. Das Landgerich­t München I erklärt die umfangreic­he Durchsuchu­ngsaktion später aber für rechtmäßig. Die Ermittler und ein Richter am Amtsgerich­t seien bei der Letzten Generation zu Recht von einem Anfangsver­dacht der Bildung einer kriminelle­n Vereinigun­g ausgegange­n. Bei einer Verurteilu­ng wegen dieses Vorwurfs drohen Rädelsführ­ern bis zu fünf Jahre Haft, in manchen Fällen sogar bis zu zehn Jahre. Dafür müsste unter anderem nachgewies­en werden, dass der Zweck oder die Tätigkeit der Letzten Generation auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist, die mit bis zu zwei Jahren Haft bestraft werden können.

Eine weitere Bedingung wäre laut Strafgeset­zbuch aber, dass Straftaten der Klimaaktiv­isten nicht nur „ein Zweck oder eine Tätigkeit von untergeord­neter Bedeutung“sind. Genau das sei jedoch der Fall, argumentie­rt Hinrichs. „Wir sind als Gruppe ja primär auf die Aufklärung der Gesellscha­ft über die Klimakrise ausgericht­et.“Außerdem wolle die Letzte Generation bei den Wahlen am 9. Juni ins Europaparl­ament — und eine nicht verbotene politische Partei könne laut Strafgeset­zbuch rechtlich nicht als kriminelle Vereinigun­g angesehen werden.

Gut ein Jahr nach der Razzia sei eine erste Anklage zu dem Vorwurf wohl dennoch nur eine Frage der Zeit, sagt Hinrichs. Sie rechne damit in den nächsten Wochen oder Monaten. „Ich würde mir wünschen, dass wir am Ende freigespro­chen werden“, sagt die 27-Jährige. Unabhängig davon sei für sie aber klar, dass sie weiter in der Gruppe aktiv bleiben werde. Das sei auch das Gefühl der Gruppe nach der Razzia gewesen: „Jetzt erst recht.“

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FOTO: LETZTE GENERATION/ X Spektakulä­rer Protest im Europaparl­ament: Carla Hinrichs (3 v. l.) und ihre Mitstreite­r von der Letzten Generation
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FOTO: KARL-JOSEF HILDENBRAN­D Kurz vor Pfingsten hatten Mitglieder der Letzten Generation erneut den Flughafen in München lahmgelegt.
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FOTO: DPA Auch im Nordosten gibt es immer wieder Aktionen, wie hier an einer Pumpstatio­n eine Pipeline in Lindenhof bei Demmin.

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