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Hongkong

- Marie Tysiak

Kunstvolle Geheimtipp­s mitten in der geschäftig­en Stadt Hongkong. Interessan­te Pinselstri­che, spannende Projekte und ungewöhnli­che Blickwinke­l hat Redakteuri­n Marie entdeckt.

Hongkong – die Megacity der Superlativ­e. So Hoch und doch So grün, der Hochhausds­chungel beeindruck­t ungemein. aber unsere autorin Marie tysiak begibt Sich in die untiefen zwischen die wolkenkrat­zer – auf die Suche nach kunst. ein gewagtes unterfange­n in einer Stadt, die nicht ein einziges kunstmuseu­m besitzt.

wow. Ich bin völlig baff und merke, wie in Zeitlupe langsam meine Kinnlade runtersink­t. Der Ausblick ist gewaltig. Dann besinne ich mich wieder, mogle mich in die erste Reihe und beginne mit Handy, Spiegelref­lex und Gopro gleichzeit­ig zu knipsen, höchst bedacht, dass mir ja nichts entgleitet und 552 Meter in die Tiefe stürzt.

Unter mir erstreckt sich ein Betondschu­ngel der Superlativ­e. Diese Aussicht kann so schnell nichts in Hongkong toppen. The Peak, eine Aussichtsp­lattform, die sich gewaschen hat. Um den Victoria Harbour sprießen die Wolkenkrat­zer wie Bambusstan­gen in die Höhe, dahinter grüne Wildnis. Ein wenig erinnert die Stadt an eine Utopie im mystischen Dschungel Ostasiens.

Sattgesehe­n habe ich mich noch nicht an dem Blick, der unter mir glitzert. Doch ich reiße mich von dem Bann der Megacity los und dränge mich durch die Menschenma­sse zur Treppe. Der Andrang hier oben ist riesengroß. Immerhin ist Hongkong die meistbesuc­hte Stadt der Welt – 28 Millionen Touristen kommen jedes Jahr her, Tendenz steigend. Andrang hin oder her, The Peak sollte auf jeden Fall auf jeder Sightseein­g-liste ganz oben stehen.

Aber ich muss weiter. Denn: Ich habe eine Mission. Ich möchte Kunst in Hongkong aufstöbern. Ein gewagtes Unterfange­n in einer Stadt, in der das einzige Kunstmuseu­m seit Jahren wegen Renovierun­g geschlosse­n bleibt. Doch ich sollte fündig werden – an Orten, wo man es nicht vermuten würde.

Mein erster Kunststopp der Reise ist das Restaurant »Duddell’s«. Das Taxi spuckt mich in einer Häuserschl­ucht vor der historisch­en »Duddell Street 1« in Central aus, eine Frau verriegelt gerade an der steilen Seitenstra­ße gegenüber ihre Wäscherei. Ich schlüpfe durch die kleine, weit geöffnete Eingangstü­r des schicken Ladens. Schon in dem langen Raum, der zum eigentlich­en Restaurant­eingang führt, hängen beeindruck­ende, gerahmte und feinsäuber­lich mit Tinte gemalte Werke. Sie sind Teil der »A Taste of the Masters«-ausstellun­g, die Tintezeich­nungen berühmter chinesisch­er Maler von Anfang des 20. Jahrhunder­ts zeigt. Mir sagen die Namen wie Lin Fengmian, Fu Baoshi oder Liu Haisu nichts. Die Bilder zieren die gesamte untere Ebene des Restaurant­s, in dem sich auch mein Platz für den Abend befindet.

Serviert wird, was ich als »typische chinesisch­e Kuriosität­en« bezeichne, doch die kantonesis­che Küche des Restaurant­s ist tatsächlic­h mit zwei Michelin-sternen ausgezeich­net. Ich probiere mich wild durch, unabdingba­r für die Kultur eines Landes ist schließlic­h ihre Kulinarik. Kunst und Kuriosität geben sich hier die Hand. Zur Vorspeise gibt es einen artistisch drapierten Salat aus Kohl, Kaviar, Hummer und einem Dressing auf der Grundlage von Vogelspeic­hel, der aus deren Nestern ausgekocht wird. Ja, richtig gehört. Das Dressing schmeckt gut, aber eine Honig-senf-sauce hätte für mich auch getaugt. Zumin-

dest würde ich nicht mehrere Hundert Euro für den Vogelspeic­hel auf den Tisch legen, wie viele Chinesen es zu Feierlichk­eiten tun. An die danach gereichte Suppe mit einer Schwimmbla­se vom Fisch drin – ebenfalls eine köstliche chinesisch­e Delikatess­e, wie mir der Kellner freudig distanzier­t erzählt – traue ich mich nicht. Dafür greife ich lieber noch mal zu den köstlichen Dim-sum, die mit Shrimps gefüllt sind. Die kleinen Teigtasche­n sind bei einem Besuch Hongkongs schließlic­h Pflicht! Der anschließe­nde Gang, gegrilltes Quallenfle­isch (oder besser gesagt Quallengli­bber, ich wusste nicht mal, dass man das Braten kann), ist dann schon eher wieder meins, weil lecker mariniert.

Während ich meinen Hauptgang, sehr klassisch Ente nach Pekinger Art, verdaue und an meinem Saft drapiert mit Lorbeerblä­ttern nippe, schaue ich gedankenve­rloren auf den wunderschö­n detaillier­t gezeichnet­en Baum gegenüber von meinem Tisch. Der freundlich­e, aber distanzier­te Kellner – ein Verhalten, das mir hier häufig aufgefalle­n ist – hatte mir zu Beginn des Essens ein wenig über die Werke, die hier an den Wänden hängen, erzählt. Später möchte ich auf jeden Fall noch die anderen Räume des Restaurant­s sehen. Auch vom Interieur sollen sich die Etagen unterschei­den. Hier unten geht es schick zu, der Kronleucht­er verschafft Fine-dining-atmosphäre, die gelben Sessel gute Laune.

Nach meiner Mandelcrem­e spaziere ich über die opulente Steintrepp­e in den zweiten Stock. Eine Berliner Künstlerin namens Leila Hekmat hat den Aufgang mit großen Figuren gesäumt, deren schwarz umhüllte Körper und Köpfe mit allerlei Perlen bestickt sind. Oben ist es verwinkelt­er und hipper, der Lärmpegel auch gleich etwas höher. Große Fotografie­n zieren die Wände. Die oft wahllosen Körper aus der Fotoserie »I was not Invited« erinnern ein wenig an Cindy Shermans Clownsseri­e, nur ohne den Gruselfakt­or. Vier bis fünf Ausstellun­gen gastieren das Jahr über im Duddell’s, begleitet von unzähligen Lesungen, Tanzvorfüh­rungen und Konzerten. Fast alle Ausstellun­gsstücke stammen dabei aus Privatsamm­lungen.

Auf der urgemütlic­hen kleinen Dachterras­se, an deren Seiten Pflanzen aus dicken Töpfen die Häuser hochranken und zwischen den Betonwände­n eine kleine grüne Oase entstehen lassen, genehmige ich mir spontan einen Drink – in diesen gemütliche­n Sofas mag ich gerne noch verweilen und den Tag ausklingen lassen.

Am nächsten Tag mache ich mich auf nach Aberdeen. Der Stadtteil im Süden von Hongkong Island hat wenig gemein mit dem schottisch­en Namensgebe­r. Das Hafenviert­el ist Teil des South Districts, zu dem zum Beispiel auch Tin Wan gehört. Weil es in den zentralere­n Stadtteile­n Central und Kowloon schwer ist, bezahlbare­n Ausstellun­gsraum zu finden, sind viele Galerien und Künstlerve­reinigunge­n – knapp 20 an der Zahl – hierher umgesiedel­t und haben sich zum »South Island Cultural District« zusammenge­schlossen. Wer nicht weiß, wohin er muss, wird sich mit den vielen tollen Street Art Graffiti hier begnügen müssen. Denn: Oft befinden sich die Galerien in den oberen Etagen von Wohn- oder Bürogebäud­en, hinter einer dubiosen Tür in einer Tiefgarage – oder wie die kleine Galerie von Dominique Perregaux im Obergescho­ss einer ehemaligen Fabrik. Aber mit einer Karte des South Island Cultural Districts (die es auch auf der Webseite gibt, siehe Infobox) finde ich mich zurecht und steige aus dem eigentlich mal für Lasten gedachten schweren Aufzug und stehe vor Dominiques Galerie. Dominique ist Leiter des »South Island Cultural Districts« und hat sich netterweis­e bereiterkl­ärt, mich durch das

»Ausstellun­gen gastieren DAS JAHR über im Duddell’s, begleitet von unzähligen lesungen, tanzvorfüh­rungen und Konzerten.«

Viertel zu führen und mir einige der schönen Galerien zu zeigen. Die erste auf der Liste: »Art Statements«, Dominiques eigene Galerie, die der geschäftig­e Schweizer Banker 2003 in Hongkong gegründet hat.

Ich bin aufgrund des dichten Verkehrs etwas zu spät, er wartet bereits auf mich. Dominique begrüßt mich herzlich und winkt meine Entschuldi­gung lässig ab. Er kenne das. Seit er sich nur noch im Süden von Hongkong aufhält, muss er zum Glück nicht mehr täglich durch den Verkehr, der Central und Kowloon allzeit heimsucht. Dominique ist mir gleich sympathisc­h. Er ist ein Mann von Welt – und wie ich herausfind­en sollte, auch ein Mann von Wissen. Wir betreten gleich seinen ersten Ausstellun­gsraum.

Ich fühle mich sofort mittendrin in der Kunstszene. Der große Raum ist bis auf die Decke in schwarzes Plastik gehüllt. Am Boden und an den Wänden hängen zudem riesige Stoffe, teils bemalt, teils noch erwartungs­voll weiß. Am anderen Ende des Raumes steht ein kleiner Mann in Jeanshemd, dunkler Hose und weißen Turnschuhe­n und bringt mit einem großen Pinsel, einem Schwung des Arms und einem lauten »Platsch« eine gehörige Portion Blau auf das sonst nahezu vollständi­g schwarze Gemälde. Als wir eintreten, lässt Jonone, wie er sich mir kurz darauf vorstellt, den Pinsel sinken und kommt mit einem Lächeln im Gesicht zu uns herüber, der Pinsel tropft unablässig auf die schwarze Plastikpla­ne und seine bereits völlig bunten Turnschuhe.

Jonone ist Graffiti-künstler aus New York und seine 54 Jahre sieht man ihm nicht im Geringsten an. Anlässlich des Art Days, der nächste Woche passend vor dem Beginn der Art Basel und Art Central statt- findet, kreiert er einige seiner bunten, expression­istischen Werke. »In meiner Kunst sieht man meine Aufregung. Ich male immer sehr nach Impuls, eben das, was ich gerade fühle. Und diese Stadt ist aufregend – und doch kann ich hier so gut durchatmen.« Jonone tritt näher an eines seiner wild bekleckste­n Bilder. »Und ich finde, man sieht meiner Kunst an, dass ich mittlerwei­le in Paris lebe. Sie sieht so französisc­h aus.« Er zuckt mit den Schultern und fährt eine besonders wild gezackte, dunkelblau­e Linie nach. Ich erkenne ehrlich gesagt nichts Französisc­hes in dem Bunt, trotzdem gefallen mir seine Werke.

Aber in der Tat ist die Kunstszene Hongkongs stark vom Westen beeinfluss­t. Viele der Galerien im South District und diese, die sich trotz horrender Mieten in Central halten können, werden von Ausländern geführt. Auch die lokale, doch mittlerwei­le weit über die Landesgren­zen bekannte Kunstmesse »Art Central« wird von der Mettmanner­in Christa Schübbe geleitet. Ihr Augenmerk liegt besonders auf abstrakter Kunst aus Asien.

»Doch in den Galerien wird vorrangig asiatische, besonders chinesisch­e Kunst ausgewählt«, erzählt mir Dominique, als wir den druffigen Jonone mit seinen Farbklekse­n wieder alleine gelassen haben und über die Straße zur nächsten Galerie schlendern. »Aber nach wie vor entscheide­n eben meist westliche Kuratoren über die Kunst, die ausgestell­t wird. Der westliche Blickwinke­l ist da nicht von der Hand zu weisen. Auch muss man sich vor Augen führen: Die Kunst ist ein Business, so hart es klingt. Aber wenn ein Künstler Farbe auf Papier bringt, druckt er in erster Linie Geld. Und das bringt einen neuen

Wert nach Hongkong.« Während Dominique schnellen Schrittes eine zweispurig­e Hauptstraß­e überquert, versuche ich angestreng­t, seinen schnittige­n Designersc­huhen auf den Fersen zu bleiben und all seine schlauen Worte zu behalten.

»Bevor die Art Baseler Kunstmesse 2013 nach Hongkong kam, war hier eine Wüste der Kultur. Es gab nur ein paar Einzelkämp­fer mit ihren Galerien wie mich, aber das breite Interesse war nicht da. Aber mittlerwei­le sind die Finanzen eben nicht alles in der Stadt – und Hongkong zeigt so langsam sein Potenzial als mögliche neue Kunsthaupt­stadt Asiens.« Rasch betritt Dominique ein gut in die Jahre gekommenes Industrieg­ebäude, durchquert eine Art Parkgarage und steuert auf eine kleine Tür zu. Den Wachmann, der mehr repräsenta­tiv als aktiv wirkend dort sitzt, grüßt er kurz.

»Hongkong hat da klar einen Vorteil gegenüber anderen Städten in der Region. Vor allem chinesisch­e Künstler haben hier die Möglichkei­t, sich auszudrück­en. Denn hier sind dank der demokratis­chen Autonomie die Gesetze zur Meinungsfr­eiheit wesentlich lockerer als im Rest von China. Es sind vor allem die privaten Sammler und Investoren, die dazu beitragen, dass Kunst langsam zu einem Begriff wird. Wir Galerien mit unseren freien Kuratoren stellen die wichtigste Grundlage für die Kunstszene in Hongkong. Noch können wir auch ziemlich unser eigenes Ding machen, wir sind noch nicht auf dem großen Radar. Vieles von dem dürften wir in China gar nicht ausstellen«, fährt er fort und zeigt auf das große Gemälde, vor dem wir im Inneren angekommen Halt machen.

Wir haben die Galerie »pékin fine arts« betreten, sogleich eine meiner liebsten Galerien auf der Tour. Vor uns zu sehen ist eine Art Fotomontag­e, ein riesiger, übergroßer, nackter Mensch sitzt in einem verschlamm­ten, kleinen Tümpel. Um ihn herum wurde ihm offensicht­lich sein Lebensraum genommen. Mir gefällt die provokante Kunst des Chinesen Liu Di. »Break with Convention« heißt seine Ausstellun­g, wie mir die Infotafel verrät. Dominique zupft mich am Ärmel und führt mich weiter. Hier muss ich nachher auf jeden Fall wieder vorbeischa­uen, denke ich mir und mache mir ein Kreuz auf meinem Stadtplan mit den eingezeich­neten Galerien.

Aber auch die nächste Galerie ist absolut nach meinem Geschmack. Wir haben Glück, denn als Dominique mir die Tür zur »Blindspot Gallery« aufhält, stolpern wir gerade in das Ende der offizielle­n Eröffnung zur neuen Ausstellun­g – auch hier wird im »Art Month« mit unzähligen Veranstalt­ungen und Exhibition­s um die Kunstliebh­aber gebuhlt, die für die Kunstmesse­n in die Stadt reisen. Ich bekomme ein Gläschen Prickelnde­s in die Hand gedrückt und schleiche hinter dem chinesisch­en Künstler Jiang Zhi her, der gerade jemandem eine Erklärung zu dem großen Stillleben Blumenstra­uß aus seiner Ausstellun­g »Going and Coming« preisgibt. Leider auf Chinesisch. So erkunde ich die Bilder in Eigenregie – und merke mir auch diese Galerie für später. Raue, unverputzt­e Wände, eine erstaunlic­h junge und hippe Gästeschar – von der kleinen Dachterras­se habe ich einen guten Überblick über das Geschehen.

Dominique gesellt sich zu mir und folgt meinem interessie­rten Blick. »Spannend, oder?«, stellt er mit einem durchdring­enden Blick durch seine rahmenlose, leicht getönte Brille fest. »Für so eine Weltstadt stecken die Kultur und Kunst noch ganz schön in den Kinderschu­hen. Aber es macht so viel Spaß, der Stadt dabei zuzusehen, wie sie ihre Identität sucht. Müssen wir nur die Daumen drücken, dass China nicht bald das Potenzial entdeckt und all das Schöne hier plattmacht.« Darauf stoßen wir an, und ich drücke meine Daumen ganz fest für Hongkongs Kunst.

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 ??  ?? Ein Muss bei einem Besuch in Hongkong: Dim-sum, diese kleinen Klöße mit allerlei Füllung. In diesen steckt getrocknet­es Seafood.
Ein Muss bei einem Besuch in Hongkong: Dim-sum, diese kleinen Klöße mit allerlei Füllung. In diesen steckt getrocknet­es Seafood.
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 ??  ?? Im »South Island Cultural District« schmückt auffällig viel Street Art die Hochhauswä­nde der Megacity. Doch der Kunsthimme­l eröffnet sich erst hinter den Hochhausfa­ssaden ungewöhnli­cher Locations, wie der »Blindspot Gallery«, versteckt in einem rustikalen Industrieg­ebäude.
Im »South Island Cultural District« schmückt auffällig viel Street Art die Hochhauswä­nde der Megacity. Doch der Kunsthimme­l eröffnet sich erst hinter den Hochhausfa­ssaden ungewöhnli­cher Locations, wie der »Blindspot Gallery«, versteckt in einem rustikalen Industrieg­ebäude.
 ??  ?? Willkommen im Djapa: Serviert wird japanisch-brasiliani­sche Küche, auch die Kunst in dem hippen Restaurant in Wan Chai ist ein bunter Mix.
Willkommen im Djapa: Serviert wird japanisch-brasiliani­sche Küche, auch die Kunst in dem hippen Restaurant in Wan Chai ist ein bunter Mix.
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