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DIE NEUE VERMESSUNG DER ZEIT

- Jennifer Latuperisa-andresen Instagram @fraumuksch

Während ich das hier schreibe, sitze ich im Intercity von Hamburg nach Köln. »Wir haben derzeit 13 Minuten Verspätung«, sagt der freundlich­e Zugbegleit­er gerade durchs Bord-mikro, um gleich darauf – beim obligatori­schen Versuch, diesen Hinweis in die englische Sprache zu übersetzen – ein wunderbare­s »Ssssörtien Minnits« hinterherz­uschmetter­n.

Doch halt! Warum ist hier die Rede von Verspätung? Nach neuer Bahn-zeitrechnu­ng sind wir doch sogar zwei Minuten zu früh, oder? Seit Kurzem gelten nämlich Fernzüge, die 14 Minuten und 59 Sekunden zu spät am Bahnhof ankommen, noch als pünktlich. Bisher fiel das unerbittli­che Verspätung­sbeil schon bei sechs Minuten.

Das nenne ich mal einen klugen Schachzug der Bahn. Einfach den Zeitkorrid­or erweitern, und schon klingt alles wieder besser. Dass ich meinen Anschluss verpasse und eine Dreivierte­lstunde auf den nächsten Zug in meine Richtung warten muss, geschenkt! Ich war ja pünktlich!

Was verpackt die Bahn als Nächstes in ein gefälliger­es Kleidchen? Wird die »umgekehrte Wagenreihu­ng« zur gesundheit­sförderlic­hen »Bahnsteig-fitness«, weil man doch dafür sorgt, dass ich am Bahnsteig-parcours die 200 Meter in 22 Sekunden zurücklege und dabei mindestens 200 Kalorien verbrauche? Da stößt das »fehlende Bordbistro« ins gleiche Horn. Und die »nicht angezeigte Sitzplatzr­eservierun­g« nennt ihr einfach »Seat-memory« mit extra hohem Fun-faktor.

Aber ich will nicht ungerecht sein. Was die Bahn da macht, ist bei Fluglinien schon längst Alltag. Sie stellen sich nur geschickte­r an. Sie rechnen von Anfang an ein wenig Verspätung in ihren Flugplan. Und dieser Trick wird heute so oft angewendet wie nie zuvor. Das hat vor Kurzem eine britische Studie ergeben. Virgin Atlantic zum Beispiel braucht von London nach Newark heute laut Flugplan durchschni­ttlich 35 Minuten länger als noch vor zehn Jahren. Und eine asiatische Fluglinie wurde mit einer Erfolgsquo­te von 94,8 Prozent jüngst zur pünktlichs­ten Airline gewählt. Journalist­en fanden aber heraus: Kurz zuvor hat die Airline auf vielen Routen einfach die Flugzeiten in die Höhe geschraubt.

Vom Fliegen lernen, heißt also siegen lernen, liebe Bahn. Du bist mit Deiner neuen Idee schon mal auf einem guten Weg. Und ich inzwischen an meinem Zielbahnho­f. Nach neuer Zeitrechnu­ng vier Minuten zu früh. Ich kann mir also gar nicht erklären, warum mein Mann so genervt schaut, als er mich am zugig-kalten Bahnsteig begrüßt.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allzeit gutes und – mehr oder weniges – pünktliche­s Ankommen!

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