Bella Coola Valley
Beseelt kehrte Chefredakteurin Jenny aus dem kanadischen British Columbia zurück. Warum? Das erklärt sie uns ausführlich.
HEKTISCH STREICHE ICH MIR DIE WIDERSPENSTIGEN HAARE AUS DEM GESICHT. WO IST DIE KAMERA? WO DAS MOBILTELEFON? UND WO VERDAMMT IST JETZT DER BÄR? KURZUM: ICH EIGNE MICH NICHT ALS NATURFILMER. ICH BIN ZU CHAOTISCH, ZU LAUT UND DEFINITIV ZU GRELL ANGEZOGEN. ABER ICH BEGINNE BESSER VON VORNE. ES IST DIE GESCHICHTE, WIE ICH ZUM ERSTEN MAL EINEN GRIZZLY SAH. EIN LANG GEHEGTER TRAUM, DER BERÜHRT.
DER WEG DURCH BRITISH COLUMBIA IST
WEITAUS MEHR ALS NUR EINE STRASSE.
eEs ist Herbst in British Columbia, Kanada. Mein Mann und ich haben uns eben von der beeindruckenden Natur des Farewell Canyons verabschiedet. Es war ein viel zu kurzer Stopp. Aber das Wetter meint es mit uns auch nicht gerade gut. Der Himmel schimpft und weint, und wir sitzen in unserem Auto auf dem Highway 20. Richtung Pazifik.
Grob sind wir mit Gisela und Bernward Kalbhenn verabredet. Wir sollten anrufen, um Bescheid zu sagen, wann wir ungefähr ankommen. Doch leider gibt es entlang der gesamten Strecke kein Netz. Dafür aber weidende Kühe, ab und an mal eine schräge zusammengezimmerte Blockhütte oder eine welke Tankstelle, deren Beleuchtung im schlechten Wetter gespenstisch flackert. Ansonsten gibt es nichts als Natur, die definitiv von keinem Funkmast in ihrer Schönheit untergraben wird.
Als wir am Clearwater Lake an der schweren Holztür der Kalbhenns klopfen, duftet es bereits aus der Küche. Gisela kocht auf ihrem alten Aga-herd ein typisch deutsches Mittagessen. Rotkohl wartet dort, Kartoffeln und Braten. Nur die Pilze in der Vorspeisen-suppe gibt es nicht in Deutschland. »Damit kochen die Kanadier auch nicht«, erzählt Gisela. »Ich bin die Einzige, die die Pilze in die Suppe packt.«
Ob das Rezept wohl aus ihrem aphrodisierenden Kochbuch stammt, das auf dem Tisch liegt, als wir gemütlich plauschen? »Das Resort«, wie Bernward es nennt, fällt schon ein wenig aus dem kanadischen Hotelrahmen. Gelsenkirchener Barock verbindet sich hier mit dem landestypischen Blockhouse-charakter und wird sozusagen zum Barockhouse. Hinzu kommt die phänomenale Aussicht auf die wilde Landschaft und den See, der heute ein wenig unruhig hin und her wippt. Und dann wäre da noch die unglaubliche Gastfreundschaft und Herzlichkeit, die diese Räume erfüllen. Wer hierherkommt, hat in Gisela und Bernward neue Freunde gefunden.
Und beinahe hätte es auch Brad Pitt hierher verschlagen, als er für die Dreharbeiten zu »Sieben Jahre in Tibet« in die Cariboo-region kam. Der Regisseur Jean-jacques Annaud blieb wochenlang bei Gisela und Bernward, Brad Pitt hingegen bewohnte einen Trailer nur ein paar
Meter von der Lodge entfernt. Und neben dem Hollywood-beau haben auch die hiesigen Coast Mountains eine wichtige Rolle im packenden Film gespielt. Die aufregenden Bergszenen, die angeblich auf dem Nanga Parbat im Himalaya spielen, wurden in dieser majestätischen Bergwildnis gedreht.
Damals wurde die Filmcrew mit dem Helikopter hoch hinaus geflogen. Und auch wir hatten diese Vogelperspektive geplant und uns schon unseren persönlichen Buschpiloten gebucht. Doch auch nach meinem flehenden Anruf, die Wetterkarte doch noch einmal genau zu studieren, ob es denn nicht doch ein Fensterchen zum Fliegen gäbe, steht für Pilot Duncan fest, dass seine antike Beaver heute definitiv nicht abhebt. Das Wetter möchte also nicht, dass wir die berühmten Rainbow Mountains sehen oder die spektakulären Hunlen Falls. Stattdessen bleibt uns der Blick vom Erdboden mit gestrecktem Kopf nach oben. Und ja, auch der ist beeindruckend.
Am nächsten Morgen überkommt uns ein »Wo-bin-ich?«-gefühl, weil der Himmel noch einen Gang höher schaltet. Es liegt Schnee am Anahim Lake, wo wir die Nacht verbrachten. Die Bäume haben sich ein Puderzuckerkleid übergestreift, die Straßen sind kaum zu erkennen, und unsere Kleidung ist nicht auf frühzeitigen Wintereinbruch ausgelegt. Und das bei 40 Kilo Gepäck. Besorgt fahren wir los gen Bella Coola Valley. Der Hauptstadt der Grizzlybären und, wie der Name Valley es vermuten lässt, im Tal.
Vor Jahren war ich schon einmal im Bella Coola Valley. Und damals sagte man mir, dass es eine Kunst sei, in der Hauptsaison keinen Bären zu Gesicht zu bekommen. Zwar war reichlich angeknabberter Lachs auffindbar, auch Kratz- und Schubbelspuren an Bäumen, doch kein Bär hat sich gezeigt.
Nun soll das anders werden! Aber vorher müssen wir den Rest des Highway 20 überstehen. »The Hill« wird die Straße genannt, oder auch »Road to Freedom«, weil die Bewohner damals nur die Chance hatten, über Ureinwohner-trails höchst kompliziert das Tal zu verlassen, wenn es nicht per Boot sein sollte. Also wurde in den 1950er-jahren der Beschluss gefasst, endlich einen befahrbaren Weg zu bahnen, der vom Bella Coola Valley auf das Chilcotin Plateau führt. Heute geht es, wie damals nach Fertigstellung, über 19 Kilometer unasphaltiert bergab. Der Weg zum Startpunkt, dem Heckman Pass, ist vorbildlich vom Schnee befreit. Noch ein letzter Stopp vor der Sicherheitstafel. Noch ein Schluck Wasser, noch ein Küsschen. Wir sind nervös, während die verschneite Landschaft fast therapeutisch beruhigend auf uns wirkt. Es ist sicher hier, sage ich mir Mantra-artig und habe dennoch im Ohr, »dass nur drei Autos« vom Weg abkamen und abgestürzt sind. Nur drei in all den Jahren. Also: Nur Mut und Gas geben. Ab und an die Bremse loslassen, hat man uns geraten, damit sie nicht zu heiß wird. Mein Mann hat feuchte Hände. Ich umklammere leicht panisch den Türgriff, um dann festzustellen, dass die kurvenreiche Straße, mit durchschnittlich 18 Prozent Gefälle, viel harmloser ist als vermutet. Ab und zu sucht der Reisende ja das Abenteuer. Oder wie Reinhold Messner sagt: Eine effektive Expedition muss Gefahr beinhalten.
Expedition ist etwas hoch gegriffen. Selbst Abenteuerurlaub würde ich das nicht nennen. Vielleicht ist der Weg bergab auch viel angenehmer als bergauf. Denn ab und an kommt es doch mal vor, dass der Fahrer am Berg anfahren muss, weil er eben vorbildlich dem großen Truck vor einer Haarnadelkurve ausgewichen ist. Es lohnt sich zudem, langsam und gemütlich hinunterzurollen. Auch wenn das wahrscheinlich Einheimische zur Weißglut treibt. Aber die Aussicht – die Aussicht! – ist einfach der Hammer. Richtig ergreifend und deswegen absolut empfehlenswert. »The Hill« ist nämlich weitaus mehr als nur eine Straße.
Obwohl wir im Schnee bei 1.828 Metern über dem Meeresspiegel begonnen haben, kommen wir auf Pazifikebene und bei T-shirt-wetter unten im Bella Coola Valley an. Die »Freedom Road« frisst sich praktisch durch den Tweedsmuir Provincial Park. Und auch auf die Gefahr hin, dass es abgedroschen klingt: Dieser Park ist eine Schönheitskönigin. Ein Fleckchen Erde, das so unberührt scheint, dass es das perfekte Reiseziel für Abenteurer ist. Wer gerne abseits der festgelegten Pfade wandert, mitten im Wald campt oder auf Entdeckungstour geht, ist hier goldrichtig. Dabei ist der Park geprägt durch Höhen und Tiefen, durch riesige Bäume, die an der Wolkendecke zu kratzen scheinen, durch Vulkane und kristallklare Gletscherseen. Der eine oder andere Bär wird auch durch die beeindruckende Kulisse streifen. Der Tweedsmuir Provincial Park ist Grizzly-terrain.
Dass dem so ist, ist auch kein Geheimnis mehr. Denn die Tweedsmuir Park Lodge, die am Rande des Parks liegt, ist ausgebucht. Aus der ganzen Welt sind sie angereist, um die Bären zu beobachten. So auch wir. Und weil die Lodge ein bärenstarkes Erlebnispaket auf verschiedenen Ebenen anbietet, dürfen wir, obwohl wir keine Gäste sind, an einem Ausflug teilnehmen. Eine Schlauchboottour über den Atnarko River, der praktisch vor der Haustür der Lodge vorbeifließt. Deswegen steht dort auch ein Ausguck auf sicherer Höhe, von dem
DER REGISSEUR JEAN-JACQUES ANNAUD BLIEB WOCHENLANG BEI GISELA UND BERNWARD.
aus die Hotelgäste das Geschehen beobachten können. Nein, genauer gesagt: ein perfektes Plätzchen, um Grizzlys zu fotografieren. Wer also in der Nobel-lodge unterkommt, hat auch das nötige Kleingeld, um sich eine Fotoausrüstung zu kaufen, die nicht nur schwer zu tragen, sondern auch schwer zu versichern ist. Tausende und Abertausende an Euro werden dort in Rucksäcken auf den Rücken getragen. Und die Teleobjektive sehen für mich so lang, hochaufgelöst und professionell aus, dass man wahrscheinlich dem Mann im Mond beim Popeln zusehen könnte.
Doch da spricht nur Neid aus mir. Denn der Bär darf bei mir nicht weiter als 25 Meter von der Kameralinse entfernt sein. Nur dann sieht es ordentlich aus. Wenn ich denn mal einem begegne. Die größte Wahrscheinlichkeit soll es auf dem Wasser geben. Deswegen die Schlauchboottour. Also: Rettungsweste an und ab aufs Boot. Wobei das Wasser so niedrig ist, dass ich das Gefühl habe, dass wir bei der Beladung mit fünf Personen wahrscheinlich eher auf Grund laufen. Doch es kommt anders …
Warum ist das Bella Coola Valley die Hauptstadt der Grizzlys? Natürlich, weil die Gegend hier auch ohne viel Übertreibung die Hauptstadt der Lachse sein könnte. Vier Sorten von Lachs schwimmen die Flüsse hinauf zu dem Punkt, an dem sie laichen. Und jede Lachssorte hat ihre eigene Jahreszeit. Der größte, der Chinook, kommt am Anfang des Sommers, und jetzt im Herbst sind die Chum-weibchen auf ihrem anstrengenden Weg stromaufwärts. Das heißt, der Bär kann genüsslich im Wasser stehen und das Maul aufhalten, damit ihm die Lachsdamen in ihrem Überlebenskampf, schlaraffenlandähnlich, in die Fänge gehen.
Das blaue Schlauchboot gleitet langsam flussabwärts. Weißkopfseeadler kreisen über unseren Köpfen und rasten auf Baumkronen. Unter und neben dem Boot wimmelt es an Lachsen, dass ich meine, ich müsste nur die Hand ausstrecken, um mir einen Fisch zu fangen. Ein Reh steht zwischen Gräsern und beobachtet uns. Aber Grizzlys? Fehlanzeige.
Doch dann – eigentlich direkt vor der Tweedsmuir Park Lodge – geht eine Mutter mit ihren zwei kleinen Bärenkindern spazieren. Wild tollen die Jungen im Wasser herum. Es sind nur wenige Meter, die uns trennen. Wild fuchtelnd versuche ich, die Kamera aus dem Wet Pack zu befreien. Am besten noch das Handy zücken für eine Instagram-story und – Moment – wo ist denn jetzt der Bär? Vor mir sitzt ein Mann aus England, den es beim Anblick kaum noch in der Schlauchbootsitzschale hält. Ich mache mir Sorgen, dass er vorne über ins Wasser kippt, während er versucht, seine Frau und den Grizzly auf ein Foto zu bekommen. Ach ja – die Natur ist eben in all ihren Facetten das beste Fotomotiv.
ER SINGT UND TROMMELT, ER SCHWELGT UND SCHWEIGT.
Enttäuscht erzähle ich Leonard Ellis von meiner Fotopleite im Boot über unsere bewegende Begegnung mit der Grizzly-familie.
»Wir haben unseren ganz eigenen Bären«, erzählt mir der Kanadier. Er betreibt Grizzly Bear Viewing Tours im Örtchen Hagensborg, das praktisch neben Bella Coola liegt. Die Orte verschmelzen miteinander, eine Stadtgrenze ist nicht wirklich auszumachen. »Jeden Abend kommt der Bär vorbei und beschnüffelt meine Hütten.« Wir wohnen in einer dieser süßen Hütten, die er auf sein Grundstück gebaut hat. Die kleine Terrasse, auf der mein Mann gerne verweilt, der Natur lauscht und eine Zigarette raucht, zeigt zur Wald- und Bergseite. Im Dunkeln, wenn wir friedlich in unseren King-size-betten schlummern, schleicht der Grizzly wohl um uns herum. Zumindest lassen die Spuren darauf schließen. »Gestern habe ich zu meiner Freundin gesagt: Wieso hast du denn all die Kartoffeln aus der Erde gerupft? Sie sagte: Ich war es nicht«, erklärt uns Leonard. Der Beweisführung zufolge hatte der Täter vier Tatzen und wog bestimmt über 130 Kilo. Der Grizzly mag einfach Lachs mit Kartoffeln, denke ich mir, und beschließe, nach Dämmerung definitiv nicht auf der Terrasse zu sitzen.
Leonard hat neben seinen Hütten noch ein Unternehmen, das Touren durch den Great Bear Rainforest anbietet. Wunderschön sind seine Ausfahrten vorbei an den hängenden Gletschern, die man vom North Bentinck Arm, dem Fjord, der zum Hafen von Bella Coola führt, bestaunen kann. Nicht selten begleiten Wale oder Delfine sein Boot, und nicht minder selten tummeln sich zahlreiche Bären auf dem Weg. Acht Stunden dauert der Ausflug, der so atemberaubend schön ist, dass die Bilder einem ein Leben lang im Gedächtnis bleiben werden.
Noch berührender ist jedoch sein Angebot, zu den Petroglyphen (Felsbildern) zu fahren. Denn Bella Coola hat auch eine enge Verbindung zu dem hier ansässigen First-nations-stamm, den Nuxalk. Deren Vorfahren haben diese Steinbilder hinterlassen, die sehr beeindruckend und gut erhalten sind. Nuxalk-guide Clyde erzählt in bewegenden Worten die Geschichte hinter diesen Zeichnungen. Er singt und trommelt, er schwelgt und schweigt. Wir hocken mitten im Wald, hinter uns rauscht ein Fluss und die Erde ist, wie es sich für einen Regenwald gehört, nass. Das Moos wächst über die Findlinge, die sich am Wegesrand befinden, während die platten Steine mit den Zeichnungen wie Trophäen aufgebahrt scheinen. Es ist ein gut ausgewählter Ort. Ein heiliger Ort.
Das Volk der Nuxalk ist von diesem Siedlungsgebiet geradezu gesegnet. Die natürliche Beschaffenheit der Region hat es durch die Berge geschützt, durch das reiche Fischvorkommen ernährt und ihm durch den Zugang zum Meer das Reisen gelehrt. Die Geschichten aus Clydes Familie sind ergreifend. Sie rühren mich zu Tränen. Auch, weil für mich nachvollziehbare Weisheit und Wahrheit in seinen Worten stecken. Beispielsweise, dass wir das Gute, das wir erleben, bei uns tragen sollten, tagein und tagaus. Dass wir über schlechte Erfahrungen nicht das vergessen sollten, was uns mit der Erde, mit unserer Geschichte und mit unserem Leben verbindet. Dass wir sie archivieren sollten – die wertvollen Momente.
Seine Worten schwirren noch durch meinen Kopf, als wir auf dem Rückweg am Wegesrand eine Traube Menschen zwischen den Büschen hocken sehen. Die großen Objektive im Anschlag. Denn da spaziert in aller Seelenruhe und in sicherem Abstand eine Bärenmama mit ihrem kleinen Jungen an mir vorbei. Über viele Minuten lässt sie sich beobachten, während der Kleine mit den Lachskarkassen am Flussufer spielt. Die Grizzlymama ist komplett entspannt, auch wenn sie den Geruch der Menschen wahrnimmt. Sie blickt sich um, wir schauen uns an, und mir ist klar, dass ich diesen Moment, diese Sekunden archivieren werde. Denn ein Traum wurde wahr in Bella Coola.
INFO
UNTERKUNFT & TOUREN
Schöne individuelle Cabins hat Leonard Ellis von Bella Coola
Grizzly Tours. Es lohnt sich sehr, von seinem persönlichen Wissen und seinen Erfahrungen zu profitieren, bcgrizzlytours.com
Die Tweedsmuir Park Lodge hingegen ist eine feine Adresse mit nur neun Chalets auf dem Grundstück. Nicht selten sind Grizzlys direkt vor der Cabin-tür anzufinden. tweedsmuirparklodge.com
PODCAST Unsere Reise war wesentlich umfangreicher, und davon erzählen wir hier: http://bit.ly/podbc
Mehr Infos zu Kanada auf kanadastisch.de oder unter www.hellobc.de
Den reisen EXCLUSIV-GUIDE finden
Sie unter www.kanadastisch.de/ reisefuehrer--british-columbia/