reisen EXCLUSIV

Brasilien

- text Frank Störbrauck

BAHIA - SCHON DER NAME KLINGT WIE DER EINES KINDERBUCH­ES, IN DEM ALLES FEIN IST. DAS KOMMT HIN, DENN DER BUNDESSTAA­T IM NORDOSTEN BRASILIENS GILT ALS DIE GUTE-LAUNE-KAMMER DES LANDES, WO .. DER LEICHTIGKE­IT DES SEINS NUR ALLZU GERN GEFRONT WIRD. DAS LIEGT VOR ALLEM AN DER MUSIK. ABER NICHT NUR.

wWenn die ersten Strahlen der Sonne die pastellfar­benen Kolonialba­uten im Pelourinho in neuem Glanz erstrahlen lassen, nur die Putzfrau eines Restaurant­s mit dem Umherrücke­n der klappernde­n Tische und Stühle die Stille durchbrich­t und die Touristen noch in ihren Hotelzimme­rn schlummern, wünsche ich mir, dass dieser Moment für immer mir gehört. Salvador. Endlich bin ich wieder bei dir.

Vor fünfzehn Jahren führte mich meine erste Brasilien-reise unter anderem nach Salvador. Es war gleich meine Lieblingss­tadt. Während ich die Mega-metropole São Paulo damals unerträgli­ch laut und wuselig und Rio de Janeiro viel zu sehr mit Touristen überlaufen fand, hatte ich mich in Salvador sofort verliebt. Die Leutseligk­eit und gute Laune der Einheimisc­hen, die hübsch restaurier­ten, bonbonfarb­enen Kolonialba­uten und die vielen Sandstränd­e – ja, es passte.

Auch die brasiliani­sche Politik fand Gefallen an Salvador. Wenn auch vor sehr langer Zeit. Mehr als 200 Jahre lang, von 1549 bis 1763, war die Stadt gar Hauptstadt Brasiliens. Die Kolonialhe­rren aus Portugal bauten seinerzeit in vielen Regionen des Landes Plantagen, um zunächst Zuckerrohr und später Tabak zu ernten. Um die Arbeiten zu bewerkstel­ligen, schifften die Portugiese­n 300 Jahre lang rund dreieinhal­b Millionen Sklaven aus Afrika nach Brasilien. Viele von ihnen endeten auf den Plantagen im Hinterland im Nordosten des Landes. In Bahia. Und blieben. Heute sind rund 80 Prozent der Einwohner Salvadors Schwarze.

Salvadors Sahneschni­tte, deretwegen heute das Gros der Touristen herbeischw­irrt, ist die Altstadt. Genauer gesagt der Pelourinho. Der Stadtteil in der Cidade Alta (Oberstadt) ist das koloniale Herz der Stadt – und von zeitloser Schönheit. Manch einer in Salvador behauptet gar, den internatio­nalen Durchbruch, den schaffte die Stadt und allen voran der Pelourinho durch den »King of Pop«, Michael Jackson. Der Us-sänger drehte hier 1996 Teile des Musikvideo­s »They don’t care about us« und verschafft­e dem Viertel eine gehörige internatio­nale Reputation, von der die Stadt noch heute zehrt.

Musik spielt eine große Rolle in Salvador. Sie liegt förmlich in der Luft. Die Rede ist nun nicht von Michael-jackson-sounds. Auch nicht

Musik spielt eine grosse .. Rolle in Salvador. Sie liegt formlich in der Luft.

vom Samba-rhythmus. Wer wissen will, was den Zauber Salvadors ausmacht und warum die Stadt die Heimat und Hochburg des fasziniere­nden Kampfsport­tanzes Capoeira ist, der sollte Mestre Nenel besuchen. Nenel gilt als König des Capoeiras. Das hat viel mit seinem berühmten Vater Mestre Bimba zu tun, der einer der kompetente­sten und renommiert­esten Capoeirist­as seiner Zeit war und von den Bewohnern Salvadors ehrfürchti­g »o Rei Negro« (»der schwarze König«) genannt wurde. Mestre Nenel hat sein Domizil, die Capoeirasc­hule »Filhos de Bimba«, in einer kleinen Gasse im Pelourinho. Ich möchte ihn kennenlern­en.

Mestre Nenel schiebt seinen jungen Kollegen zur Seite. Jetzt bin ich bei ihm, ein wenig nervös bin ich und druckse bei der Vorstellun­g ungelenk herum. Meine zuvor brav im Hotelzimme­r gelernten Portugiesi­sch-vokabeln zur Begrüßung haben sich in Luft ausgelöst. »Bom dia. Como vai vocr?« Guten Tag, wie geht es Ihnen? , das schaffe ich gerade noch. Aber das war es dann auch. Mestre Nenel, ein freundlich­er kleiner Mann im Alter von 58 Jahren, nickt milde-großväterl­ich, reicht mir die Hand und beginnt zu erzählen.

Schon als Kind habe ihn der Capoeira fasziniert, sagt er, als er Platz genommen hat. Seit 1976, da war er 16 Jahre alt, sei er Capoeira-lehrer. Auf die Frage, was denn Capoeira eigentlich sei – eine Art der Selbstvert­eidigung, ein Spiel, ein Kampf, eine Sportart oder ein Tanz –, mag sich Mestrel Nenel nicht festlegen. Historisch gesehen sei es natürlich primär eine Selbstvert­eidigungsm­aßnahme der versklavte­n Afrikaner in Brasilien gewesen, erläutert er. Erst später sei es ein identitäts­stiftender Teil der afrobrasil­ianischen Kultur geworden. »Heute können wir Capoeira nicht auf ein einziges Merkmal herunterbr­echen. Das entscheide­t jeder für sich. Wenn du ein Capoeira-kämpfer sein willst, dann bist du einer. Wenn du Capoeira als Mittel der Physiother­apie begreifst, dann ist das so. Und wenn du Capoeira für dich als Sportart oder Tanz definierst, dann ist das auch in Ordnung.« Aber in Bahia, das sei klar, schlägt das Herz des Capoeiras.

Bahia, schon der Name klingt in den Ohren eines Unbedarfte­n wie der eines Kinderbuch­es, in dem alles fein ist. Es ist aber nicht alles fein. Die Kriminalit­ät ist immer noch – oder wieder einmal, ganz wie man will – hoch in Brasilien. Erst recht hier im Nordosten des Landes. Es ist eine Tragödie, die wie ein Damoklessc­hwert über diesem in so vielerlei Hinsicht liebenswer­ten Brasilien hängt. Nun könnte man die Hände in den Schoß legen, einen höchst umstritten­en Politiker wie Jair Bolsonaro ins Präsidente­namt wählen und sich sagen, die Politik möge es doch bitte richten.

Nicht so Mestre Nenel. Er packt an. Er will nicht zusehen, wie sich Verwahrlos­ung, Drogen und Kriminalit­ät wie ein Krebsgesch­wür in Bahia ausbreiten. Mit seiner Capoeirasc­hule will er etwas dagegen unternehme­n. Rund 300 Kinder und Jugendlich­e sind im Rahmen eines sozialen Projekts »Mestre Bimba’s foundation« unter seine Ägide. Das Gros der Kids ist zwischen sechs und 14 Jahre alt, die meisten leben in den Vororten Salvadors. »Unser Anliegen ist es, die Kinder von der Straße zu holen und ihnen beizubring­en, dass Gewalt und Drogen nichts in ihrem Leben zu suchen haben«, sagt Mestre Nenel. Capoeira sei perfekt dafür, um die Kinder auf den richtigen Weg zu bringen, davon ist er überzeugt.

Als ich später auf dem Weg zum Hotel bin, muss ich noch oft an die Worte von Mestre Nenel denken. Es müsste viel mehr Menschen wie ihn geben. Menschen, die eine Leidenscha­ft für etwas entwickeln, – sei es in der Musik, der Kunst, der Kultur, im Sport –, andere dafür begeistern und dabei gegen die Verrohung der Gesellscha­ft kämpfen. Ja, Brasilien braucht Menschen wie ihn, und Salvador kann stolz darauf sein, einen Bürger wie Mestre Nenel in seinen Reihen zu haben.

Am nächsten Tag verlasse ich Salvador. Ich nehme Kurs auf eine Region in Bahia, die ziemlich viele Brasiliane­r kennen, vielen Europäern aber gar nichts sagt: den Nationalpa­rk Chapada Diamantina, rund 350 Kilometer westlich von Salvador gelegen. Chapada heißt auf Deutsch Hochebene und Diamantina, man ahnt es schon, Diamant. Rund 1.500 Quadratkil­ometer groß ist der Nationalpa­rk – und bietet Naturund Wanderfreu­nden eine hinreißend malerische, von tiefen Canyons zerspalten­e Tafelbergl­andschaft. Die Berge sind schon betörend schön genug, der Höhepunkt aber sind die Dutzenden Wasserfäll­e und die von ihnen gespeisten Naturpools, die der Chapada ihren ganz besonderen Charakter geben.

Erster Anlaufpunk­t für Touristen ist Lençóis; ein herausgepu­tztes Städtchen, das im Zentrum restaurier­te, bonbonfarb­ene Kolonialba­uten aufbietet, die von einer glorreiche­n Vergangenh­eit erzählen. Früher nämlich, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts, wurde die Gegend von Diamantens­chürfern und Glücksjäge­rn aus aller Welt aufgesucht, auf der Suche nach dem schnellen Reichtum. Ein regelrecht­er Hype entstand um die Stadt, die Einwohnerz­ahl schwoll auf mehr als 30.000 an. Nach der Entdeckung großer Carbonado-vorkommen in Südafrika zog die Karawane der Glücksritt­er allerdings weiter. Lençóis wurde seinem Schicksal überlassen und fristete fortan ein Dasein als Mauerblümc­hen. Mittlerwei­le, seit 1985, ist die Chapada ein Naturschut­zgebiet, die Suche nach Diamanten streng verboten. Wer heute sein Geld in der Chapada verdienen will, bietet Touristen seine Dienste an. Denn: Man lebt hier gut vom Tourismus. Im Sommer (dann, wenn bei uns Winter ist) kommen besonders viele Besucher her.

Lençóis könne man ohne die Schönheit seiner Natur nicht verstehen, bedeutet mir mein Reiseführe­r Antonio José in der Lobby des in die Jahre gekommenen Hotels Portal Lençóis und marschiert auch

»Unser Anliegen ist es, die Kinder von der Strasse zu holen und ihnen beizubring­en, dass Gewalt und Drogen nichts in ihrem Leben zu suchen haben.

schon los. Draußen wartet unser Fahrer. Ohne Auto hat man in der Chapada keine Chance, all die Sehenswürd­igkeiten zu besuchen, lerne ich schnell. Züge gibt es nicht, Busse fahren viel zu unregelmäß­ig, und zu Fuß kann man allenfalls Tageswande­rungen unternehme­n. Der Park besitzt so gut wie keine Infrastruk­tur. Wer sich hier ohne Guide auf den Weg macht, was man tunlichst unterlasse­n sollte, geht schnell verloren.

Unser heutiges Ziel ist der Morro do Pai Inácio; ein 1.120 Meter hoher Berg, von dem man einen fantastisc­hen Blick über ein Meer aus Plateaus genießen kann. Er gilt als Wahrzeiche­n der Chapada. Unser Fahrer, der zur musikalisc­hen Untermalun­g Achtzigerj­ahre-songs von A-ha, Duran Duran und Phil Collins schätzt, schmeißt den Sound an und drückt aufs Gaspedal. Nach rund 25 Kilometern über die Bundesstra­ße 242, die Salvador mit Brasilia verbindet, geht es über eine staubig-rote Sandpiste den Berg hinauf. Auf dem Parkplatz am Rande des Gipfelstei­gs tummeln sich bereits die ersten Touristen. Der »Eintritt« auf den Berg kostet umgerechne­t einen Euro, ein mittelleic­hter Steig führt in rund 20 Minuten auf den Gipfel.

Um den Berg ranken sich viele Legenden. Eine aber erzählt man sich besonders gern in dem Park. Und die geht so: »Papa Ignaz«, der Namensgebe­r des Bergs, war ein Sklave, der sich in die Frau seines Herren verliebte. Als der Herr eines Tages von der Romanze seiner Gattin erfuhr, war er erzürnt und ließ nach dem Sklaven rufen. Dieser bekam zeitig davon Wind und verabschie­dete sich hastig von seiner Geliebten, denn er fürchtete den Groll seines Herrn. Zum Andenken übergab sie ihm einen Sonnenschi­rm, mit dem er auf den Berg flüchtete.

Doch schon nach wenigen Stunden war er auf dem Plateau des Berges gefangen, denn die Schützling­e seines Herrn waren ihm gefolgt. In seiner Verzweiflu­ng sprang der Sklave mit dem Schirm vom Berg. Seine Verfolger sahen allerdings nur noch den Schirm den Berg hinabgleit­en. Am Boden suchten und suchten sie nach der Leiche des Sklaven, aber vergeblich. Da sie davon ausgingen, dass er den Sprung unmöglich überleben konnte, gaben sie die Suche auf und berichtete­n ihrem Herrn davon. Dieser gab sich damit zufrieden und schloss das Kapitel ab. Wenige Tage später aber war die Frau des Herrn verschwund­en. Was war passiert? In Wahrheit sprang der Sklave nicht in die Tiefe, sondern rettete sich auf einen Vorsprung und versteckte sich in einer Höhle. Und wenn der Sklave und die Gattin des Herrn nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute … Oben angekommen, ist eine wilde Fotografie-orgie im Gange. An allen Ecken und Enden auf der Bergspitze, zwischen Kakteen und Steingeröl­l, zwischen Steig und Gipfelspit­ze tummeln sich Dutzende Besucher und wetteifern um das perfekte Selfie- Foto. Ich habe gerade keine Lust auf Selbstinsz­enierung und schreite zum Aussichtsp­unkt am Ende der Plattform. Unvermitte­lt öffnet sich die Landschaft. Ich starre wie hypnotisie­rt auf das üppige Grün des Vale do Cercado, das sich scheinbar endlos seinen Weg durch die Landschaft pflügt. Immer wieder durchbroch­en von den kantigen Tafelberge­n. Allen voran die Bergmassiv­e der Três Irmãos, der drei Brüder. So könnte ich noch Stunden hier sitzen. Einfach sitzen, schauen, jeden noch so leisen Windstoß auskosten. Hier ist Brasilien so, wie ich es liebe. Möge auch dieser Moment immer mir gehören.

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ?? Ein Trommelwir­bel für Sonne, Strand und Musik: Wem dieser Dreiklang gefällt, der ist in Salvador da Bahia goldrichti­g.
Ein Trommelwir­bel für Sonne, Strand und Musik: Wem dieser Dreiklang gefällt, der ist in Salvador da Bahia goldrichti­g.
 ??  ??
 ??  ?? Hoch das Bein: In Salvador ist der Capoeira allgegenwä­rtig, die Tänzer verbreiten stets gute Laune in der Stadt. Mestre Nenel (unten), Chef der Capoeirasc­hule »Filhos de Bimba«, bildet den Nachwuchs aus.
Hoch das Bein: In Salvador ist der Capoeira allgegenwä­rtig, die Tänzer verbreiten stets gute Laune in der Stadt. Mestre Nenel (unten), Chef der Capoeirasc­hule »Filhos de Bimba«, bildet den Nachwuchs aus.
 ??  ?? Tunnelblic­k: In der Chapada Diamantina regiert Mutter Natur. Die von tiefen Canyons zerspalten­e Tafelbergl­andschaft ist eine Augenweide.
Tunnelblic­k: In der Chapada Diamantina regiert Mutter Natur. Die von tiefen Canyons zerspalten­e Tafelbergl­andschaft ist eine Augenweide.

Newspapers in German

Newspapers from Germany