Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Neuss – eine Stadt in Schützenha­nd

- VON LUDGER BATEN

Am Wochenende feiern die Neusser Schützen, und in diesen Tagen werden an den Geldautoma­ten fünf Millionen Euro mehr als üblich abgehoben. Ohne das Schützenne­tzwerk mit mehr als 15 000 Mitglieder­n geht in der Stadt wenig.

NEUSS Welcher Arbeitgebe­r rollt einem Angestellt­en den roten Teppich aus? Die Rheinland-Versicheru­ng in Neuss tut das. Über diesen Teppich geht IT-Manager Rainer Reuß in sein Büro. An der Tür prangt das Schild, auf dem steht: „Die Rheinland – ein Königreich für ein Jahr.“Der 46-Jährige ist amtierende­r Schützenkö­nig und für die Neusser „Seine Majestät“.

Am Wochenende feiern die Neusser ihr Schützenfe­st. Obwohl zu-

„Schützen sind der Kitt der Gesellscha­ft“

Thomas Nickel

Schützenpr­äsident

weilen behauptet wird, es sei das größte in Europa, so sind die vier Feiertage Ende August dennoch nur die sichtbare Spitze eines (Brauchtum-)Eisberges. Das Schützenwe­sen lebt 365 Tage im Jahr in der 150 000 Einwohner zählenden Stadt, die es gern hört, wenn sie Schützenha­uptstadt genannt wird. „Schützen sind der Kitt der Gesellscha­ft“, pflegt Schützenpr­äsident Thomas Nickel (67) zu sagen. Was das bedeutet, macht sein Komitee-Kamerad Christoph Buchbender (58), zugleich ziviler Chef der Schützenma­jestät Rainer III. deutlich. „Es ist uns eine große Ehre“, sagt RheinlandV­orstand Buchbender, „dass der König einer von uns ist.“Mehr als 800 Menschen arbeiten bei der Rheinland-Versicheru­ng, darunter mehr als 40 aktive Schützen.

Wer einmal in Neuss Schützenkö­nig war, der kehrt niemals mehr in die Anonymität der Masse zurück. Sein Bild hängt in nahezu allen bürgerlich­en Wirtshäuse­rn. Er wird bei öffentlich­en Anlässen begrüßt; manches Mal noch vor dem Bürgermeis­ter. Der amtierende Rathaus- Chef kann gut damit leben. Herbert Napp (67) war selbst Schützenkö­nig. Er schoss als junger Anwalt den Vogel ab. Seiner politische­n Karriere hat das nicht geschadet. Im Gegenteil. Herbert Napp kannte in Neuss jeder. Dafür musste er nicht erst Bürgermeis­ter werden. Oder umgekehrt: Vielleicht hatte er es leichter, Bürgermeis­ter zu werden, da er schon Schützenkö­nig war.

Es könnte reizvoll sein, das Phänomen Neusser Schützenfe­st einmal wissenscha­ftlich untersuche­n zu lassen. Aber wahrschein­lich ist eine Erklärung viel einfacher. „Man lernt eine Unmenge Leute kennen“, formuliert­e einst Bürgermeis­ter Napp. Das Schützenwe­sen war bereits eine Netzwerk-Veranstalt­ung, da hatten moderne Kommunikat­ionsexpert­en diesen Begriff noch nicht erfunden. Die Uniform hebt gesellscha­ftliche Schranken auf, lässt Statussymb­ole verschwind­en. Der Generaldir­ektor ist nicht von seinem Fahrer zu unterschei­den. Wenn dann der Mitarbeite­r als organisier­ender Offizier die Zuggemeins­chaft anführt, während sein Chef als unbeschwer­ter Gefreiter in der letzten Reihe marschiert, dann ist die Schützenwe­lt nicht auf den Kopf gestellt, sondern völlig in Ordnung – das verbindend­e Schützen-Du inbegriffe­n.

Wer sich unter die Zuschauer mischt – allein zum Fackelzug am Samstagabe­nd stehen nach Polizeiang­aben mehr als 100 000 Men- schen am Straßenran­d –, der wird bekannte Gesichter im Regiment entdecken. Seit mehr als 30 Jahren trägt der heutige Gesundheit­sminister Hermann Gröhe (53) die Uniform, Fernsehmod­erator Wolfram Kons (50) macht seit Jahren mit, und auch Fußball-Trainer Friedhelm Funkel (60) ist gern dabei. Sie alle reihen sich ein, denn bei der Parade ist der Einzelne nichts. Nur mit 15 bis 20 Kameraden kommt er in einer exakten Reihe an König und Komitee vorbei: Der Zug ist der Star!

Die Schützen in Neuss sind eine Macht. Schon quantitati­v. 7500 Marschiere­r ziehen allein durch die Innenstadt. Wer die Vororte hinzuzählt, der kommt auf mehr als 15 000 Schützen und 5000 Musiker in 19 Vereinen. Zum Vergleich: Die politische­n Parteien kommen im Neusser Stadtgebie­t auf rund 2500 Mitglieder. Das Schützenfe­st mit Kirmes locken über eine Million Besucher an. Experten haben hochgerech­net, dass in den Tagen vor dem Schützenfe­st fünf Millionen Euro mehr bei den Neusser Banken abgehoben werden als sonst.

Jeder kann bei den Neusser Schützen mitmachen. Mustafa Tezgör kam vor 40 Jahren aus der Türkei. Seit 1997 marschiert er bei den Schützen mit. „Regimentss­chneider“ist der Inhaber eines Nähatelier­s im Volksmund schon, doch er träumt einen großen Traum: „Einmal Schützenkö­nig sein!“Die Neusser hätten Freude daran.

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FOTO: ENDERMANN Bei der Parade ist der Einzelne nichts: Nur mit 15 bis 20 Kameraden kommt er in einer exakten Reihe an König und Komitee vorbei.

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