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Richter: Kein Urteil kann Verlust Tugçes ausgleichen
Drei Jahre muss der 18 Jahre alte Sanel M. wegen des Todes von Tugçe in Haft. Der Täter nimmt das Urteil regungslos auf.
DARMSTADT (dpa) Ganz in Schwarz gekleidet warten Tugçes Eltern und ihr Bruder Dogus schon eine halbe Stunde vor Verhandlungsbeginn auf das Urteil gegen Sanel M.. Während der gut einstündigen Urteilsbegründung von Richter Jens Aßling weint Mutter Sultan im Saal 3 des Landgerichts Darmstadt immer wieder leise oder starrt wie ihr Mann Ali vor sich hin. Das Strafmaß von drei Jahren Jugendhaft nehmen die Albayraks gefasst auf. Dogus schüttelt nur leicht den Kopf, als Aßling sagt, Sanels Entschuldigung im Gerichtssaal sei nach Einschätzung der Kammer „durchaus aufrichtig gemeint gewesen“.
„Die ganze Familie ist immer noch in Schockstarre“, sagt Tugçes Cousine Capri vor Verhandlungsbeginn. Der älteste Sohn der Familie, auch er Nebenkläger, ist nicht zur Urteilsverkündung gekommen. „Ich glaube, dass die Familie froh ist, dass der Prozess vorbei ist“, sagt ihr Anwalt Macit Karaahmetoglu. Die Albayraks seien in den vergangenen Wochen immer wieder mit den Einzelheiten des Todes ihrer Tochter konfrontiert worden.
Und wie sieht die Familie das Strafmaß für den 18 Jahre alten Verurteilten? Sie selbst äußert sich nicht. Ihr Anwalt sagt: „Jetzt besteht die Chance, eine Zäsur in seinem Leben zu setzen. Sein Leben kann man noch retten. Das von Tugçe nicht mehr.“
Den verhängnisvollen Schlag ins Gesicht der Studentin wertete das Gericht als Körperverletzung mit Todesfolge. Der Täter habe den Tod der 22-Jährigen nicht beabsichtigt, sagte der Vorsitzende Richter Jens Aßling. Aber: „Wer so heftig zuschlägt, der nimmt die Körperverletzung in Kauf.“Zudem bescheinigte der Richter dem jungen Mann „schädliche Neigungen“und „erhebliche Erziehungsdefizite“beim Umgang mit Gewalt. In seiner Entscheidung folgte das Gericht in weiten Teilen der Staatsanwaltschaft, die auf drei Jahre und drei Monate Haft plädiert hatte.
Lediglich die „Schwere der Schuld“wollten die Richter nicht feststellen. „Über diese Frage kann man diskutieren“, sagte ein sichtlich zufriedener Oberstaatsanwalt Alexander Homm nach der Urteilsverkündung. Die Verteidigung kündigte Revision an. Sanels Anwalt Heinz-Jürgen Borowsky sagte, man halte die Begründung des Gerichts nicht für überzeugend. Es hätte bessere Möglichkeiten gegeben, als Sanel M. im Gefängnis wegzusperren.
Sanels Schlag, mit dem er Tugçe in den Morgenstunden des 15. Novembers auf dem Parkplatz eines Schnellrestaurants in Offenbach zu Fall brachte, wertete das Gericht nicht als Ohrfeige. Es sei vielmehr ein „von unten nach oben ausholender Schlag in Richtung des Gesichts“gewesen. Tugçe prallte mit dem Kopf auf den Boden und erlitt dabei schwerste Hirnverletzungen, an deren Folgen sie elf Tage später im Krankenhaus starb.
Sanel M., der einen grellrosa Pullover trägt, blinzelt während der Urteilsverkündung einige Male, scheint sonst aber ruhig. Eine Freundin bricht im Zuschauersaal in Tränen und Schluchzen aus. Vor dem Gerichtsgebäude kommt es bei einer Mahnwache für Tugçe zu Beleidigungen. Ihre Tante Mihrican weint und ist außer sich: Einige Frauen aus dem Gerichtssaal hätten auf ein Foto Tugçes gespuckt.
Richter Aßling wendet sich gleich zu Beginn seiner Urteilsbegründung an Tugçes Familie. Die Albay- raks hätten einige Fragen während der Verhandlung vielleicht als despektierlich empfunden. Es sei aber nicht die Absicht des Gerichts gewesen, Tugçe „herabzusetzen oder gar zu demontieren“, betonte Aßling. „Es geht allein darum herauszufinden, was passiert ist.“Dabei sei dem Gericht bewusst: „Dieser Verlust ist durch kein Urteil dieser Welt wieder auszugleichen. Damit müssen Sie leben, so schwer es fällt.“
Auch während seiner Begründung der Höhe des Strafmaßes spricht Aßling die Albayraks an. Es sei sicher schwer für sie zu ertragen, dass nun über die Zukunft des Angeklagten gesprochen werde. Dieser sei von einer Vorverurteilungskampagne „in großem Umfang gebrandmarkt“und spüre dies auch im Gefängnis.
Gegen Sanel spreche, dass er die Warnschüsse von drei Jugendarresten – den letzten zwei Monaten vor der Tat – nicht verstanden habe. Auch nach seinem verhängnisvollen Schlag „hätte man sich gewünscht, dass er mehr Empathie und Mitempfinden mit dem Opfer hat“, sagt Aßling. Daran müsse er nun in der Jugendhaft arbeiten. „Wir fürchten, wenn er jetzt einfach so wieder in Freiheit kommt, dass er relativ schnell in alte Verhaltensmuster und seinen Freundeskreis zurückfällt, der sich hier nicht unbedingt rühmlich gezeigt hat.“