Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Anis Amri ging in Berlin durchs Netz
Im Streit um die politische Verantwortung für das Weihnachtsmarkt-Attentat gerät NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) immens unter Druck. Gleichzeitig wird aber auch das Versagen der Berliner Behörden immer deutlicher.
DÜSSELDORF Immer wieder setzt NRW-Innenminister Ralf Jäger seine Lesebrille ab und blickt in das Rund des NRW-Innenausschusses. Aber nicht mehr mit jenem spöttelnden Blick, den er sonst gerne aufsetzt, wenn die Opposition ihm mal wieder Fahrlässigkeit nachweisen will. Gestern war es eher ein trotziger Blick, gleichwohl auch etwas müde, mit dem Jäger seine Angreifer musterte. Jäger ist angeschlagen. Nicht nur politisch.
Wäre das Attentat von Berlin zu verhindern gewesen, wenn das geltende Recht nur konsequenter gegen den Attentäter Anis Amri angewandt worden wäre? Im Innenausschuss geriet die Auseinandersetzung darüber wieder zu einem juristischen Hauptseminar. Vier Stunden musste Jäger sich gegen diesen Vorwurf verteidigen, der wie ein Damokles-Schwert schon seit Wochen in immer neuen Nuancen über seinem Kopf schwebt: Amri war seit Februar als jemand bekannt, dem die Behörden einen Anschlag zutrauen. Sein Asylantrag war längst abgelehnt, er hielt sich illegal in Deutschland auf. Er stand unter Beobachtung, war Gegenstand diverser Strafverfahren unter anderem wegen Diebstahls- und Drogendelikten. Warum haben Jägers Behörden nicht wenigstens versucht, Amri in Haft zu nehmen oder besser noch abzuschieben?
„Weil das rechtlich aussichtslos war“, argumentiert Jäger – und hat dabei etliche Expertisen auf seiner Seite. Nicht ohne Grund diskutiert inzwischen ganz Deutschland über eine Verschärfung der Gesetze gegen solche Gefährder, wie Amri einer war. „Anstatt es wenigstens zu versuchen, hat der Innenminister einfach die weiße Fahne gehisst“, ruft ihm wütend CDU-Innenpolitiker Peter Biesenbach entgegen. Das ist im Kern der Vorwurf der Opposition: Selbst wenn es juristisch kaum durchsetzbar gewesen wäre, hätten Jägers Behörden zumindest versuchen müssen, Amri zu inhaftieren.
Hätte, hätte. „Mit dem Wissen von heute ist uns allen klar: Anis Amri wurde falsch eingeschätzt“, sagte der Minister und betonte, dass diese Einschätzung nicht er, sondern ganze 40 länderübergreifende Behörden im Terrorabwehrzentrum GTAZ vorgenommen haben.
Das ist Jägers Verteidigungslinie zwischen den Zeilen: Wenn überhaupt, spielte NRW im Vorfeld des Attentates für Amri nur am Rande eine Rolle. Ja, Amri war überwie- gend hier gemeldet, weshalb die Ausländerbehörde Kleve und auch die Staatsanwaltschaft Duisburg immer wieder eine Rolle spielten. Aber gelebt hat Amri tatsächlich vor allem in Berlin. Und dort wurde er offensichtlich nicht ausreichend überwacht.
Dass Amri überwiegend in Berlin unterwegs war, wird von der Opposition zwar ebenfalls in Frage gestellt. Aber hier spricht ein geheimer Bericht des Landeskriminalamtes (LKA) für Jägers Version. Ein schon vor Tagen an die Öffentlichkeit gedrungenes „Personagramm“, in dem die Behörde fünf Tage vor dem Attentat – und damit frei vom Verdacht jeglicher politischen Intervention – ihre Erkenntnisse über den damals schon als potenziellen Terroristen eingestuften 24-Jährigen zusammenfasst. Das 18-seitige Papier belegt nicht nur die weitgehende Ahnungslosigkeit der Behörden. Es zeigt auch, dass ihr Unwissen in einem merkwürdigen Missverhältnis zu den umfangreichen Überwachungsmaßnahmen steht, mit denen sie versucht haben, das Gefahrenpotenzial der Zielperson abzuschätzen.
Gleich auf der ersten Seite wird Amri als „Gefährder“eingestuft, also als jemand, dem die Behörden ein Attentat zutrauen. Ein Bild da-
Ralf Jäger runter zeigt ihn in einem offenbar privaten Kontext – es könnte eine Straßenszene sein, aufgenommen durch eine Überwachungskamera.
In der Rubrik „polizeilicher Status“werden drei Aktenzeichen aufgeführt. Zweimal gingen die Behörden bis dahin wegen vermutetem Diebstahl gegen Amri vor. Unter „Maßnahmen“steht, dass Amri noch am 13. Oktober durch den Bundesverfassungsschutz beobachtet worden ist. Zwei Tage, nachdem der marokkanische Geheimdienst das Bundeskriminalamt vor Amri als möglichem Attentäter gewarnt hatte. Warum wurde der Verfassungsschutz des Bundes dem Geheimpapier zufolge nur an diesem einen Tag tätig?
„Äußeres Erscheinungsbild: Gepflegt“, heißt es in dem Papier, Amri sei „Nichtraucher“. Ihm werden umfangreiche Fremdsprachenkenntnisse attestiert: Deutsch, Arabisch, Italienisch, Spanisch und Französisch soll er gesprochen haben, von besonderen Sprengstoffoder Kampfsportkenntnissen wussten die Behörden am 19. Dezember nichts. Akribisch dokumentiert das Personagramm 14 Moscheebesuche Amris, unter anderem in Dortmund, Berlin und Hildesheim.
„Der hier thematisierte Anis Amri pendelt, seitdem er im November 2015 erstmals in Duisburg und Dortmund festgestellt wurde, regelmäßig zwischen Berlin und dem Ruhrgebiet“, heißt es in dem Dossier, „sein Lebensmittelpunkt dürfte seit seiner Einreise nach Deutschland ganz überwiegend Berlin sein. Hier hält er sich in verschiedenen Moscheen und Unterkünften im Berliner Stadtgebiet auf, wobei er die Schlaforte regelmäßig wechselt.“Das zeige „eine Konspirativität, die über das normale Maß hi- nausgeht“. Das Personagramm endet mit dem Satz: „Nach Erkenntnissen des LKA Berlin befindet sich Amri wieder in Berlin, wo er in wechselnden Unterkünften schläft, ohne in Berlin amtlich gemeldet zu sein.“Fünf Tage später wurde Amri zum Attentäter.
„Mit dem Wissen von heute ist uns allen klar: Anis Amri wurde falsch
eingeschätzt“
NRW-Innenminister