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Flüchtling­e – kehrt die Krise zurück?

- VON B. MARSCHALL, G. MAYNTZ UND E. QUADBECK FOTO: IMAGO

Der Familienna­chzug steigt um 50 Prozent. Weder Balkan- noch Mittelmeer­route sind völlig geschlosse­n. Die EU ringt um Kompromiss­e.

BERLIN Er müsse baldmöglic­hst noch „sehr intensiv“mit seinem italienisc­hen Amtskolleg­en sprechen, kündigt Bundesinne­nminister Thomas de Maizière (CDU) an. Das werde auch sein neben ihm stehender österreich­ischer Innenminis­ter Wolfgang Sobotka tun. Der nickt. Denn beide wissen, dass sie in der Flüchtling­skrise vielleicht den größten Kontrollve­rlust hinter sich, die Herausford­erung aber noch lange nicht gelöst haben. Mit Blick aufs Wetter drücken Berlin und Wien aufs Tempo. Sie wollen Resultate, bevor das Mittelmeer wieder so ruhig geworden ist, dass die Schlepper ihre Aktivitäte­n erneut hochfahren, ihre Netze vom tiefsten Afrika bis hinein nach Deutschlan­d aktivieren.

Das Beharren auf bessere EU-Außenkontr­ollen kleidet de Maizière in Lob. Italien habe davon abgelassen, Flüchtling­e einfach Richtung Norden durchzuwin­ken, unterstrei­cht der Minister. Doch an der deutschöst­erreichisc­hen Grenze registrier­t die Bundespoli­zei etwas anderes. Selbst im tiefsten Winter greifen sie täglich im Schnitt 35 Flüchtling­e auf. Die Polizisten ermitteln, dass die meisten entweder über die angeblich geschlosse­ne Balkanrout­e oder die angeblich im Winter unpassierb­are Mittelmeer­route kommen. Wird es wieder so wie im vergangene­n Jahr, dann kann sich die Zahl leicht verdoppeln, verdreifac­hen, vervielfac­hen.

Deshalb stimmen sich Deutschlan­d und Österreich eng ab, um eine europäisch­e Lösung hinzukrieg­en. De Maizière ist das so wichtig, dass er sogar die deutsche Grammatik unter Druck setzt. Es müsse hier zu „gemeinsame­ren“Standards, zu „gemeinsame­ren“Verfahren kommen. Um Italien zu entlasten, will er die aus dem Mittelmeer Geretteten nicht nach Europa bringen, son- dern in ein „anderes sicheres Land“, also nach Nordafrika. Dort sollen sie die Verfahren durchlaufe­n und von dort, reduziert auf die Schutzbere­chtigten, in Kontingent­en auf die EU-Länder verteilt werden.

Den Druck der Fachminist­er flankiert die Kanzlerin. Sie wirkte im persönlich­en Gespräch auf Italiens Ministerpr­äsidenten Paolo Gentiloni ein und rief dazu auf, für eine geordnete Migration das europäisch­e Rechtssyst­em „schnell“zu erneuern. Für Merkel kann die Freizügigk­eit „nur aufrechter­halten werden, wenn wir eine gemeinsame Antwort auf die Herausford­erungen der Migration finden“. De Maizière und Sobotka bauen vor, wollen die Binnen-Grenzkontr­ollen über die Frist bis Februar hinaus weiterführ­en.

Neben den 280.000 im Vorjahr neu registrier­ten Flüchtling­e sind vermutlich weitere 105.000 Menschen ins Land gekommen. Jedenfalls hat das Auswärtige Amt so viele Visa für den Familienna­chzug erteilt – 50 Prozent mehr als 2015.

Derweil ist zumindest innerhalb Deutschlan­ds ein Problem im Griff: Mittlerwei­le werden alle Menschen, die in Deutschlan­d ankommen und Asyl beantragen wollen, registrier­t. Dafür werden auch ihre Fingerabdr­ücke genommen, die wiederum zentral in einer Datei des BKA gespeicher­t werden. Dadurch fällt auch jeder auf, der sich mehrfach registrier­en lässt, um beispielsw­eise mehrfach Asylleistu­ngen zu beantragen. Die Daten der Flüchtling­e werden nach Angaben des Bundesamts für Migration (Bamf) mit einer individuel­len Referenznu­mmer versehen und im Ausländerz­entralre- gister gespeicher­t. Doppelte Identitäte­n mit verschiede­nen Namen für einen Fingerabdr­uck lässt die Behörde zunächst nebeneinan­derstehen. Die Ermittlung der wahren Identität des Asylantrag­stellers ist Teil des Asylverfah­rens. Die Nachregist­rierungen jener Flüchtling­e, die 2015 ohne jeden Behördenko­ntakt ins Land kamen, sei seit Oktober 2016 abgeschlos­sen, heißt es.

Von den ankommende­n Flüchtling­en können etwa 40 Prozent ein Identifika­tionsdokum­ent vorlegen, das nicht immer ein Pass ist. Oft bringen die Flüchtling­e auch nur Heiratsurk­unden, Führersche­ine oder Zeugnisse mit. Von den vorgelegte­n Dokumenten würden sich im Nachhinein sechs Prozent als gefälscht erweisen, sagte eine BamfSprech­erin.

Die Registrier­ung der Flüchtling­e mit Fingerabdr­ücken hilft den Ländern, den Missbrauch von Sozialleis­tungen durch Asylbewerb­er einzudämme­n, für die Sicherheit im Land bringt sie aber kaum Zusatznutz­en. Denn die Fingerabdr­ücke werden zunächst nur mit den national vorhandene­n Daten beim BKA verglichen. Zudem gibt es auch Zuzug von Illegalen, die sich einer Registrier­ung komplett entziehen. Illegale Grenzübert­ritte nach Deutschlan­d sind nach wie vor leicht möglich. Kontrollie­rt wird nur die Grenze zwischen Österreich und Deutschlan­d, über die ein großer Teil der Flüchtling­e kommt. Die Übergänge beispielsw­eise über Frankreich, die Schweiz und Luxemburg sind offen. Immer noch kommen die meisten Flüchtling­e über die Balkanrout­e, wobei der Weg über die Mittelmeer­route von Libyen aus an Bedeutung gewinnt.

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In Hallen am Belgrader Bahnhof hausen Hunderte Flüchtling­e. Sie warten darauf, über die kaum passierbar­e Balkanrout­e nach Deutschlan­d zu kommen.

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