Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Die Diamanten von Nizza
Warum werden so viele Hiobsbotschaften auf dieser Welt ausgerechnet am Montagmorgen überbracht?
Es war sechs Uhr morgens Ortszeit, als das unbarmherzige Läuten des Telefons Elena Morales aus herrlichem Tiefschlaf riss. Benommen tastete sie nach dem Hörer und brachte ihn unter mehrfachen Verrenkungen an ihr Ohr. „Sam?“, fragte sie halb hoffnungsvoll, halb ärgerlich.
„Ganz und gar nicht“. Am Apparat war Frank Knox, Gründer und Vorsitzender von Knox Insurance, und in seiner Stimme schwang ein gestresster Unterton mit. „Wir haben da ein Problem“, erklärte er, und er brauchte nur zwei Sätze, um seiner Angestellten klarzumachen, dass es sich um eine der höchsten Dringlichkeitsstufen handelte.
Trotz des frühmorgendlichen Verkehrsstaus in Los Angeles schaffte Elena es, um Punkt halb acht sein Büro zu betreten – und zwar ohne, dass es zu feindlichen Berührungen mit anderen Fahrzeugen gekommen wäre.
Von dem jovialen Verhalten, das Frank Knox normalerweise zur Schau trug, war keine Spur mehr zu entdecken. „Ich schätze, Sie haben eine Ahnung, worum es geht“, sagte er, winkte sie näher heran und klickte auf seinem Laptop eine Datei mit Zeitungsausschnitten an. „Diese Juwelendiebstähle in Südfrankreich werden mit jedem Jahr schlimmer. Und nun greifen sie auch noch auf unser Terrain über. Vor ein paar Stunden erhielt ich einen Anruf von unserer Niederlassung in Paris; in dem Anwesen einer unserer Klientinnen in Nizza wurde ein Raubüberfall verübt, die Täter haben etli- che Juwelen erbeutet. Mehrere Colliers mit Diamanten von 5,06 Karat an aufwärts bis 287 Karat, von sehr gutem Brillantschliff und weißer Farbe, keinerlei oder wenig Fluoreszenz.“
„Welchen Reinheitsgrad hatten sie?“
„Die meisten waren als flawless, lupenrein, ausgewiesen, auch bei zehnfacher Vergrößerung sind also keine inneren oder äußeren Fehler zu erkennen. Einige wurden als VVS1 und VVS2 eingestuft, also minimale Einschüsse, die selbst bei zehnfacher Lupenvergrößerung nur schwer auszumachen sind.“
„Keine Piqué darunter. Gute Wahl“, meint Elena.
„Die Bestohlene heißt Madame Castellaci. Sie ist völlig aufgelöst. Und ihr Mann scheint von der forschen Art zu sein: In unserer Pariser Niederlassung ist bereits eine Schadensersatzforderung eingegangen, in einer Höhe, die ähnlich gigantisch ist wie die gegenwärtige Staatsverschuldung.“Er hielt inne, um sich mit einem Schluck Kaffee zu stärken.
„Und wie hoch ist die vertraglich zugesicherte Deckungssumme?“, hakte Elena nach.
Knox schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. „Wir haben das Risiko so weit wie möglich gestreut, aber die Summe, die wir berappen müssen, stellt trotzdem einen schmerzhaften Verlust dar. Wir reden von einer siebenstelligen Zahl. Zwei Millionen, vielleicht auch drei.“
„Gehen Sie denn davon aus, dass ein berechtigter Anspruch besteht? Was hat die Polizei herausgefunden?“
Frank Knox fuhr sich durch sein schütteres und ergrautes Haar und seufzte. „Nicht viel. Nach allem, was ich höre, scheinen Profis am Werk gewesen zu sein – keinerlei Spuren, keine Finger- oder Fußabdrücke, rein gar nichts.“
„Und was sagen unsere Leute in Paris?“„Nur eines: Hilfe!“Der Vorstandsvorsitzende fiel wie ein Häufchen Elend in seinem Chefsessel zusammen. So niedergeschlagen hatte Elena ihn noch nie gesehen. Frank Knox hatte geplant, in ein paar Monaten in den Ruhestand zu gehen, seinen Wohlstand zu genießen, nicht unverdient, nach 35 Jahren gewissenhafter Arbeit mit gefühlten zwei Fehltagen. Und nun das! Trotz des Geldes, das er im Laufe der Jahre auf die hohe Kante gelegt hatte, war dieser Verlust ein schmerzhafter Tiefschlag.
Mitgefühl stieg in Elena auf. „Frank, was kann ich für Sie tun?“
„Ich möchte, dass Sie nach Paris fliegen, um unseren Mitarbeitern dort seelischen Beistand zu leisten und sich mit allem vertraut zu machen, was dort über den Fall bekannt ist.“Frank stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. „Und dann hätte ich gerne, dass Sie sich nach Nizza begeben und die Klienten, das Ehepaar Castellaci, in die Mangel nehmen.“Er hob die Hand. „Ich weiß, ich weiß. Das wird die Polizei bereits gemacht haben, aber manchmal übersehen Kriminalbeamte die eine oder andere Kleinigkeit. Zugegeben, die Erfolgsaussichten sind gering, aber das ist alles, was uns bleibt.“Er schob den Aktenordner über den Tisch. „Bitte sehr – Lektüre für den Flug. Und viel Glück!“
Sein Smartphone läutete, er hatte eine Nachricht empfangen, die er öffnete und entgeistert anstarrte. Er schüttelte mehrmals den Kopf und hielt dann Elena das Gerät unter die Augen. Sie blickte auf einen grell leuchtenden Ball. – „Sieht aus wie ein Ausschnitt aus einem ScienceFiction-Streifen über das Implodieren der Sonne in fünf Milliarden Jahren, wenn der Wasserstoff im Zentrum des Sternes verbraucht ist“, sagte Elena.
„Sollte man meinen, aber unsere Leute in Paris schreiben, dies sei das einzige Bild von dem potenziellen Einbrecher, das sie haben. Sonderbar. Na, ihren Humor scheinen die noch nicht verloren zu haben.“
Elena hatte gemischte Gefühle, als sie ihren Koffer für die bevorstehende Reise packte. Normalerweise wäre sie überglücklich gewesen, wieder einmal nach Frankreich zu fliegen. Doch dass sich dieser Besuch als Vergnügen erweisen würde, war unwahrscheinlich. Ihre Kollegen in der Pariser Niederlassung waren vermutlich nervös und gereizt, und falls die Castellacis in Nizza auch nur annähernd den üblichen Knox-Klienten glichen, würden sie ihr mit Hochmut und Misstrauen begegnen. Nicht zum ersten Mal wurde Elena an die Ironie des Schicksals erinnert, die im Versicherungswesen herrschte. Rein theoretisch handelte es sich bei Versicherungen um eine für beide Seiten vorteilhafte Vereinbarung; in der Praxis beruhte sie gleichwohl auf einer Beziehung, in der beide Seiten einander zutiefst misstrauten. Betrug, fehlerhafte Darstellung des Sachverhalts und unverblümte Unehrlichkeit waren an der Tagesordnung.
Sie versuchte, ihren Koffer zuzumachen. Wie immer hatte sie zu viel eingepackt, und wie immer musste sie sich auf den Deckel setzen, um ihn schließen zu können.
(Fortsetzung folgt)